Wien. Unten am Donaukanal. Sommer 2011.
Heute sind aufgeschüttete Sandstrände auf Parkdecks oder an Ufern städtischer Gewässer keine Seltenheit mehr, aber damals lag in dieser Idee noch einen Reiz des Aufbruchs inne. Als Echo unseres WM-Sommermärchens, der guten Stimmung, die rüber in die nächsten Jahre getragen wurde. Und folgerichtig schwappte dieses Konzept mit ein wenig Verzögerung auch nach Wien. Dort, wo alles 50 Jahre später passiert, wie einst Gustav Mahler konstatierte. Für ihn daher ein perfekter Ort, sollte einmal die Welt untergehen.
Jetzt aber ist Aufbruch. Jetzt hat Haya Molcho, die zu dieser Zeit höchstens rund um den Naschmarkt einen Namen hatte, mit ihren Söhnen den Tel Aviv Beach 2010 ins Leben gerufen und Wien ist ganz aus dem Häuschen, um sich aufgeregt eine der Strandliegen zu ergattern und am Donaukanal sitzend, rüber zum ersten Bezirk schauen zu können. Alles war chic und im mediterranen weiß-blau gehalten. Außerdem gab es Stockfisch von der Makrele, samt Ciabattabrot, Minze und einer Zitronenhälfte für 15 Euro. Der Wein war kalt und die Luft angenehm erfrischend.
Wo bekam man das schon, außer im Urlaub? Nur hier am Donaukanal.
Überhaupt, der Donaukanal. Dieser gerade, glatt betonierte Schnitt, welcher den ersten vom zweiten Bezirk trennt. Die Innere Stadt von der Leopoldstadt. Früher auch arm von reich.
Ein Geländer gibt es nicht und ich wunderte mich jedes Mal, dass in lauen Sommernächten die Menschen nicht reihenweise ins Wasser purzelten.
Anfang der 2010er war ich der Meinung Schriftsteller werden zu wollen. Jahre später begriff ich, dass ich es nur ›werden wollte‹, niemals aber es zu ›sein‹.
Das neue urbane Lebensgefühl packte selbstverständlich auch mich. Instagram kannte man noch nicht, der Flair war aber schon da.
So schrieb ich eine Kurzgeschichte. Business-High-Society beim Feierabend-Caipi, aber der Protagonist möchte ausbrechen. Raus aus dem Hustle, aus dem Sehen-und-gesehen-werden – für welches genau diese Beachbar natürlich konzipiert war.
Der Held der Geschichte hatte keinen Namen, seine Ex hieß Nina, ihr neuer Freud wurde nur als ›Lover‹ tituliert und der beste Freund des namenlosen Erzählers hörte auf ›Thure‹. Das gefiel mir. Das hatte etwas ursprüngliches, sagenhaftes und passte zum Pay-Off der Story. Ebenso wie wie mein erfundener Cocktail ›Wellenbrecher‹.
Die Dialoge kamen jedoch direkt aus dem Sägewerk der Hölle: total hölzern. Vom Duktus in höheren Unternehmensebenen hatte und habe ich keinen Schimmer. Die Geschichte funktionierte nicht und ich wusste nicht warum. Einen Nebenstrang, der tagsüber in eben diesen Unternehmensetagen spielt, machte alles nur noch lebloser. Die wörtliche Rede verklebte wie Harz die ansonsten gute Idee und manche durchaus gelungene Passage.
›Im Gegensatz zu den anderen scheint mir das Büro nicht hierher gefolgt zu sein. Der Tag ist nur noch eine Handbreit über der Skyline zu erahnen. Überall sonst hat schon die laue Nacht begonnen … Ich selber bin noch nicht müde. Jenseits des Wassers bilden die Bürotürme eine Festung aus Arbeitsalltag und Lebensversicherungen. Ihre Neonlogos stempeln sich in das Schwarz der Sommernacht. Der Himmel ist stockfinster.Auf dem Kanal aus flüssigem Pech treiben tausende Fetzen Blattgold. Schätze, die keiner bereit ist zu bergen. Oder reflektieren nur die Lampen?‹
Das größte Problem der Geschichte aber war, dass der eigentlicher Plot gänzlich langweilig und bedeutungslos daher kam. Vier Freunde beim Feierabend am Kanal, ein bisschen High-Society-Setting und oberflächliche Unannehmlichkeiten, die den Protagonisten aber eher durchsetzungsschwach erscheinen lassen. Vor allem, da er jahrelang seiner Ex nachtrauert. Einen richtigen Konflikt brachte ich nicht zustande und aus diesem Grunde wirkte der Pay-Off, wegen dem ich die Geschichte überhaupt schrieb, wie hingestellt und behauptet. Dabei war das Ende nicht nur eine der besten Sequenzen, die ich je schrieb, sie zählt bis heute auch zu meinen Top-3-Einfällen und passte in diese Aufbruchsstimmung der Zeit, in dieses digitale Erobern, bei dem die Karten neu gemischt und die Posten neu verhandelt wurden. Und der Inhalt der letzten Zeilen passte zu mir. War doch auch ich erst zwei Jahre zuvor ins Unbekannte aufgebrochen und hatte mit Wien verheißungsvolles Neuland besetzt.
So muss ich gerade an genau diesen Moment denken, an dem ich in der Strandbar saß – wahrscheinlich direkt am Kai, wo man sich mit einer selbst mitgebrachten Flasche auf den nackten Asphalt setzen durfte ohne etwas bestellen zu müssen. Der Moment, an dem mir die Idee für das Ende kam und ich um dieses innere Bild nun eine Geschichte stricken musste. Mit Dialogen, so spröde wie die Holzplanke über die ein gefesselter Delinquent gehen musste, um seine Todesstrafe auf hoher See anzutreten.
›Auf dem Beistelltisch summt ein Handheld. Thure greift nach dem Gerät und entfernt sich ein paar Meter. Im Gesicht spiegelt sich die Wichtigkeit des Anrufes wider. Seine Gestik wirkt hektisch. Der König ruft seine Untertanen, der Chef verkündet eine Planänderung. Ich wende mich ab. Flussaufwärts, wo die Fürstendamm-Brücke habgierig nach der Innenstadt greift, brechen drei Segel aus der Nacht.
Ein breiter Kahn mit baumhohen Masten kratzt an der Unterseite des Brückenbogens und steuert zielsicher auf den Strand zu. Die Holzplanken jammern unter der Last tausender Seemeilen, doch aufgeben gilt nicht, noch liegen zahlreiche unentdeckte Gewässer vor ihnen. Hinter dem Steuer, im Schein der Öllampe, steht eine Gestalt mit langem Umhang und Dreispitz. Ihr blonder Pferdeschwanz leuchtet wie die Sichel einer Sonnenfinsternis. Den Arm nach vorne ausgestreckt und in der Hand den Krummsäbel, zeigt sie mit der Spitze direkt zu mir. Ganz oben auf dem Mast weht die Totenkopfflagge. Das Schiff legt backbord an und drei windige Helfer schieben den Steg auf den Kai. Ich erhebe mich aus dem Liegestuhl, schnüre meine Schuhe auf und laufe barfuß über die splittrigen Kanten des Schiffsteges. Das nasse Holz riecht nach salzigem Meerwasser, beim Ablegen fauchen von oben die Segel. Dann hat man mir auch schon meinen Krummsäbel gereicht.‹
Zum Schreiben bin ich trotz allem zurück gekehrt.