›Ich bin auch gar nicht da,‹ entschuldigt sich die Verkäuferin, als sie sich zwischen mir und das Bücherregal schiebt, weil sie ein paar Hardcover unten in die Schublade verstauen möchte, während ich drei Taschenbücher von Benedict Wells in den Händen halte und überlege, welches ich als erstes kaufen möchte.
Sie ist mir schon drei Minuten zuvor hier in der Bahnhofsbuchhandlung aufgefallen, mit ihrer schwarz-blonden Pferdeschwanzfrisur, mit der sie ein wenig an ein Stinktier erinnert. Dazu ihre bunten Tattoos auf Armen und Beinen, die Dank ärmellosem Shirt und ihrer Hot Pants auch perfekt zur Geltung kommen. Ihre Kleidung ist komplett schwarz, weshalb ich nicht weiß, ob ich sie in die Gothic- oder doch in die Punkszene verorten soll. Dazu kenne ich mich zu wenig in den Musikrichtungen aus, nehme aber an, dass das Notizbuch mit dem ›FCK AfD‹-Aufkleber vorhin am Verkaufstresen ihres war.
›Ist doch schön, dass sie da sind‹ möchte ich mit ihr flirten, doch fällt der Satz mir 10 Sekunden zu spät und erst nach meinem stumpfen Gestammel ein, welches anstelle aus mir heraus kam. Chance vertan. Unsicherheit bestraft das Leben. Ab zum Zug und nach Weimar.

Dort, am Rande der Altstadt, also noch neben dem Markt, der eh schon abseits vom Touristen-Trubel scheint, auf einer Bank mit Blick auf Park und Bastille (die Weimeraner, nicht die Pariser), nehme ich wieder auf die Verkäuferin Bezug und stelle mir selbst die Frage: ›Wo bin ich überhaupt?‹ Nicht jetzt im Moment, sondern in meinem Leben. Geografisch, nicht Biografisch. Doch, natürlich auch letzteres, beides hängt eng zusammen, aber erst mal die Stadt an sich. Die Stadt, aus der ich gerade mit dem Zug angereist bin: Leipzig.
Auch nach vier Jahren bin ich dort immer noch nicht angekommen. 600.000 Einwohner. Einer zu viel. Eine mittlere Großstadt, in der viel los ist, aber die auch überraschend schnell unübersichtlich werden kann. Und trotzdem ist Leipzig zu klein, um sich selbst eine Stadt in der Stadt zu schaffen. Um der König seines Grätzels zu sein, seines Veddels, seines Kiezes.
Sind also Orte wie Weimar, Erfurt oder Heidelberg besser für mich? Provinzstädtchen, die wonnig in die Natur eingebettet sind und scheinbar kaum größer, als ein Teller vor mir auf dem Tisch? Einer, bei dem man mit einem Blick weiß, wo alles ist und dennoch genug Platz hat, um sein Leben kunstvoll anzurichten?

›Bevor man es benutzt, tut es einem nicht so schlimm weh‹, reißt mich ein junges Mädchen aus meinen Gedanken. Sie geht an der Seite eines älteren Mannes mit grauer, schulterlanger Lockemähne an mir vorbei und ich weiß weder, ob sie Vater und Tochter oder Mann und Geliebte sind, noch was genau weh tut, bevor man es benutzt und schon gar nicht, ob ihr Satz inhaltlich Sinn ergibt.
Ehe ich weiteres von dem Gespräch zur möglichen Auflösung aufschnappen kann, sind beide schon zwischen den parkenden Autos verschwunden.
Als waren sie auch gar nie da.