Beide Räume wirken, als hätte sich vor 40 Jahren hier eine Plattensammlung voll Mi Amore Italo-Schlager-Schnulzen über die Wänden ergossen. Jeder Zentimeter zugekleistert mit Vintage-Flohmarkt-Tünnef aus Emotionen, Erinnerungen, Träumereien und Altherrenwitzchen. Postkarten, Fotografien, Neapelflair, Karikaturen, Autogrammkarten. Adriano Celentano, Silvio Di Lauro, Gloria, Volare, Umberto Tozzis Ti aaaamo, Io sono, ti aaaamo. Dazu Hollywoodstars und die besten Jahre von Cinecittà. Alles Standbilder aus Filmen. Alle beim Pizzaessen. Laurel und Hardy, Sophia Loreen, Julia Roberts, Michael J. Fox im Jahre 2015 – nicht in unserem, in dem von Hill Valley.
Zwischen all den Fetzen aus Gestern hängt im Durchgang zur Küche allen Ernstes noch ein graues Wählscheibentelefon. Ich bin begeistert.
Weniger Jubel bricht bei mir wegen dem, etwas unansehnlich ausgearbeiteten Rand meiner Pizza aus. Doch sie riecht selbstgemacht. Nicht High-End-Performer Teigfermentations-selbstgemacht, eher Küchenofen-selbstgemacht. Examens-Abschiedsparty-selbstgemacht. Ein bisschen ist der Anspruch seit der Inskribierung und den wochenlangen Dosenravioli-Exzessen während den Prüfungsphasen dann doch gestiegen. Instagram tut sein übrigens. Da investiert man auch mal in die guten Dosentomaten und kauft auch den frischen Basilikum.
Neapolitanisch ist sie damit halt leider kein bisschen, was Maradonna aber nicht davon abhält, zwischen all den Schlagergöttern würdevoll aus seinem Schrein heraus zu scheinen.
Hinterher wird mir die Pizza Lombardei empfohlen. Eine Bianco mit gekochtem Schinken und Gorgonzolakäse. Da habe ich meine Paprika-Artichoken-Pompei aber schon längst bestellt.
Die Decken hier bei Pasquale sind niedrig. Wüsste ich es nicht besser, würde ich auf eine Gartenlaube tippen. Zwei Räume. Links Pizzaofen, rechts Küche und Bar. In beiden verteilt: Tische, Stühle und besagte Devotionalienflut. Aber das genau macht den Charme aus. Du bist hier bei Freunden, nickt das Ambiente uns zu. Selbst, wenn man gar nicht so dicke miteinander ist. Aber so wie hier haben wir uns immer die Pizzeria unserer Großmutter vorgestellt, wenn sie denn eine gehabt hätte. Sie wäre auch gar nicht unsere leibliche Oma gewesen, mehr ein Großtanten-Omadings für alle, mit der extra Mama-Miracoli-Herzenswärme. Zum ersten Mal in unserem Leben wäre zwar Blut immer noch dicker als Wasser, aber ihre Pizzasoße wäre am dicksten von allen gewesen. Das schweißt zusammen. Ihre Gartenlaubepizzeria wäre die heile Welt am späten Mittag nach Schule und Ärger mit den Eltern.
Jetzt sind die Kids aus dem Haus und werden langsam erwachsen. Dafür haben sie jetzt das Ruder übernommen und wuppen neben dem Studium diese Pizzeria hier. Outgesourcte WG-Küche etwa. So sammelt sich neben dem Kühlschrank auch schon mal das Leergut in einer LIDL-Tüten.
Es ist nicht ganz ersichtlich, wer alles Gast und wer Gastgeber ist. Ständig geht irgendwer in die Küche rein oder raus, hat aber gar keinen Dienst heute oder gehört zu denen, die dennoch ganz regulär ihr Essen bezahlen. Die Übergänge jedenfalls sind so fließend wie geschmolzener Mozzarella.
Beim Bezahlen raubt mir einer der Angestellten etwas von meiner Illusion. Das Ladenlokal ist gerade mal 10 Jahre alt, anfangs sogar ohne Pizzabereich. Vorher war an dieser Stelle ein Feinkostgeschäft. Der Flohmarkt-Krusch verfing sich also nicht peux a peux über Jahrzehnte in den Gasträumen, sondern muss zielgerichtet dort verteilt worden sein.
So genau möchte ich das alles gar nicht wissen und greife zum Hörer des Wandtelefons. Die Wählscheibe knarzt erbost, meine Fingerkuppen schneiden sich am spröden Plastik auf. Dann tutet es. Am anderen Ende hebt die honigweiche Stimme von Romina Power ab. ›È abbassare la luce per fare pace. La felicità, felicit-hàà‹