Am nächsten Tag trifft mich das Elend mit voller Wucht. Die Obere Badstraße in Eberbach. In diesem Altstadtgässchen im hinteren Neckartal hat die Zeit aufgegeben und sich aus dem Staub gemacht. Zurück blieben Leerstand, Verfall und ausgeblichene Ladenschilder.
Persönlich trifft mich das Werbeschild vom Café Müller am meisten. Jakob Müller Konditorei. Abgeblättert bis zur Unleserlichkeit. Früher bröckelte hier höchstens ein Stück Mürbteig oder Schokoladenüberzug von der Gabel.
Überhaupt. Was mag wohl in den Kühltheken für liebevoll verzierte Köstlichkeiten auf die Kuchenversessenen Kundschaft gewartet haben? Jetzt liegen da drinnen Gerüstplatten und Kalksäcke. Und es schaut nicht so aus, als ob die Baustelle jemals fertig werden soll.
In den 80ern war es sicher richtig entzückend hier. Als die Einfamilienhäuser an den Hängen noch nach frischer Wandfarbe und getrocknetem Zement rochen. Da war ein Ausflug an den Neckar etwas, worauf man sich die Woche über gefreut hat. Einmal auf der Terrasse vom stolzen Hotel Krone-Post speisen. Mit Blick auf den Fluss. 350 Jahre Jahre ließ sich dort gut aushalten. Dann, im Jahre -1 vor Corona musste wegen Missmanagement zugesperrt werden. 12 Monate später hätte der Virus und der dazugehörige Lockdown ohnehin die Betten und die Kassen leer gemacht. Letztlich sind die Inhaber dem unausweichlichen Niedergang nur zuvor gekommen.
Man spürt, wie die Stadt versucht mit Co-Working-Angeboten verzweifelt gegen dagegen anzukämpfen. Etwas Geld wird aus den Fördermitteln des Landes für diese und jene Aktion schon noch zusammen gekratzt. Aber kein junger Mensch, der halbwegs bei Trost und Bildung ist, bleibt hier wohnen.
Vorne, beim ›Eiscafé VENEZIA II‹ und dem Fachwerkhotel ›Altes Badhaus‹ schaut es wieder freundlicher aus.
Zufrieden plätschert der Brunnen auf dem kleinen Platz um die beiden Häuser. Ein paar Rentner haben es sich auf den dazugehörigen Bänken gemütlich gemacht. Der rechts außen hat, kein Witz, seinen Papageien dabei. Einen grünen Amazonenpapagei, der es sich im Gestänge einer Pergola gemütlich gemacht hat. Hin und wieder fliegt er zu seinem Herrchen hinüber und holt sich ein Leckerli ab.
›Man muss eine Bindung mit dem Tier aufbauen. Die wollen unterhalten werden. Auch ein bisschen schmusen,‹ kaut der Rentner auf einem Stück Marmorkuchen herum. Die leckere Süßigkeit muss er heimlich essen, sein Vogel ist auf Diät. Sieht das Federvieh freilich nicht ein und hat sich mit dem Konzept Übergewicht nie so ernsthaft auseinander gesetzt. Nicht, dass er noch von der Pergola plumpst.
›Nur Idioten sperren die in einen Käfig,‹ zuckt der Mann mit den Schultern. Als er vorhin kurz zurück nach Hause ist, um was zu holen, wurde der Vogel richtig unruhig. Sein Sitznachbar passte währenddessen auf das Tier auf, aber der Papagei rief die ganze Zeit ›Papa‹.
Während er mir das erzählt brauche ich tatsächlich ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass die keifende Stimme hinter mir keinem alten Mütterlein gehört. Dann ziehe ich weiter und lasse den Eberbacher Piraten mit seinem gefiederten Exoten am Brunnen vor dem Eis-Venezia II zurück.
So richtig behagt mir der Ort nicht. Der nächste Zug zurück wird meiner sein. Immerhin ist Eis Venezia I nicht einem Feuer zum Opfer gefallen oder wurde vom Fluss fort gespült. Es steht nur seelenruhig am gegenüberliegenden Ende der Altstadt. Doch eine unschöne Überraschung wird Eberbach noch aus dem Sack hervor ziehen. Am Bahnsteig, ganz am Ende, wo sich Fußweg und Gleise kreuzen, fallen mir Trauerkerzen und ein halbes Dutzend Kuscheltiere auf. Hier, an dem nur unzureichend geschützten Übergang kam vor vier Wochen ein fünfjähriger Bub auf seinem Fahrrad ums Leben. Vor den Augen seiner Mutter. Ein Güterzug erfasste ihn.
Eines der Stofftiere ist der kleine Drache Tabaluga. Ich kenne nur das erste Album. ›Tabaluga oder die Reise zur Vernunft‹. Und natürlich dieses eine Lied, das bekannteste, das mir in diesem Moment schmerzhaft in Erinnerung gerufen wird. Diese erste Zeile, die wir alle kennen. Verdammt. Volle Wucht auch beim Abschied.