Damals ahnte ich noch nicht, dass mein Plan Schriftsteller zu werden einzig aus der hilflosen Suche nach Bedeutsamkeit geboren war. Schreiben mochte ich schon, Wörter faszinierten mich – künstlerisch-inhaltlich oder typografisch gesetzt – aber Charaktere ausarbeiten und auf ihre ganz persönliche Reise schicken, einen, in sich stimmigen Plot konstruieren und womöglich sogar einen tollen Twist oder eine überraschende Pointe in die Tasten zaubern, das war alles nichts für mich. Es fühlte sich falsch an. Ganz tief in mir drinnen und ohne es mir wirklich bewusst zu sein. So, als würde ich mich über die Schöpfung erheben und selber Gott spielen: Wem widerfährt dieses und jenes Schicksal, was wird daraus gelernt, was sollte die Person überhaupt lernen und hätte nicht schon früher alles anders laufen können, bevor meine Gesichte ihren unseligen Gang nehmen würde?
Es gibt 8 Milliarden Menschen auf der Welt. Da muss ich nicht noch welche hinzu erfinden.

In Edinburgh brannte ich noch für die Vorstellung, dass sich meine Bücher im Buchhandel zum Verkauf stapeln und auf Lesereise mir unzählige aufregende Menschen begegnen würden.
Die besondere Atmosphäre der zweitgrößten Stadt Schottlands (und gleichzeitig ihr Regierungssitz) inspirierte nicht nur J.K. Rowling zu Harry Potter. Unzählige Eindrücke prasselten in den sechs Wochen meines Aufenthaltes auf mich ein und dutzende Bilder entstanden darüber hinaus in meinem Kopf. Bilder, wie fehlende Sticker bei einem Sammelalbum, die nur noch in die Freifläche der tatsächlichen Szenerie eingeklebt werden mussten. Bilder, die Fragen aufwarfen – nein , Bilder, die Fragen waren. Tief humanistische Fragen!
›Wer sind die Besitzer der ganzen Barkassen, die im Union Canal vor Anker liegen? Wie sieht ihr Leben aus? Was passiert bei einer Fahrt mit solch einem Kahn? Welche Geschichten spielen sich in dem Pup am Leith Walk ab? Der mit dem Schachbrettboden und den rustikalen Holznischen, was ihm dem Flair einer altertümlichen Bahnhofshalle verleiht? Wollen die Gäste bei ihrem Pint dort lieber ankommen oder doch endlich los starten? Und wohin fährt der bärtige William-Wallace-Darsteller in Kostüm und Schminke, der gerade am St. Andrews Square mit prall gefüllten Plastiktüten in seinen silbernen Toyota steigt?‹

Allen voran stellte ich mir aber einen Zirkus in den großen Weiten der Meadows vor. Knapp 24 Hektar misst der Park im Herzen der Stadt und ist nicht nur ein gern frequentierter Tummelplatz für Studenten, Spaziergänger oder Sportler, sondern auch eine passende Örtlichkeit für Kirmes oder andere Schausteller.
Während ich in Edinburgh war, gab es keinen Zirkus und sicher war der in meinen Gedanken größer, schöner und atemberaubender, als alle rot-weiß-gestreiften Zelte, die tatsächlich dort je in die Erde gepflockt wurden.
So ein bisschen wie in Tim Burtons ›Big Fish‹, dachte ich mir. Mit einer ganz wunderbar märchenhaften Magie, welche die Einzigartigkeit meiner Protagonisten und ihre gerade entflammenden Liebe zueinander mit leichter Feder unterstreicht.

Aber da jetzt eine ganze Story drum schreiben?

Ich sog mir irgendetwas aus den Finger, kritzelte mein Notizbuch voll und schrieb keine einzige Zeile. Sogar das Notizbuch warf ich irgendwann weg. Denn in Wahrheit war mir nicht nach schreiben zu Mute. Mit der Brechstange hatte ich mich aus meinem komfortablen Leben in Wien selbst heraus gebrochen und zusätzlich aus einer angenehmen Liebelei zurück ins Singeldasein gehebelt. ›Auf ins Abenteuer!‹ hatte ich mir eingebildet. Einen Roman schreiben und tolle Frauen kennenlernen. Bei den Lesereisen mit den ganzen Bücherstapeln zum Signieren vor mir. Groupiesex nach ausverkauften Stadthallen und frenetischem Fanjubel.
Passierte natürlich alles nicht. Kein Roman, kein Fame, keine Groupies. Stattdessen stundenlanges Grübeln zur Musik von ›Rush‹, dem superben Film von Ron Howard, mit Daniel Brühl als Niki Lauda und dem treibenden Score von Hans Zimmer. Alles zusammen ein wahrer ›hidden gem‹! Ich aber war nicht versteckt, ich war versunken. Ich vermisste Wien, vermisste die zurückgelassene Beinahe-Freundin. Vermisste eine Hand aus den Wolken, die mir mit einem Fingerzeig die Richtung vorgab und verständnisvoll ›Du bist nicht ganz falsch hier‹, brummelte. So wie bei den Monty Python Sketchen.

Tief in mir spürte ich nämlich, dass etwas wahrhaftiges in meinem Trip nach Schottland lag. Etwas umfassenderes, etwas, das ganz tief aus meinem Wesen zu kommen schien. Wien hatte ich fünf Jahre aufgesogen, nahezu am Stück. Jeden Tag, ohne größere Urlaube zwischendrin. Am Ende kam es mir schließlich zu nah.

Schon früher hatte ich davon geträumt, mal für einen Monat nach Toulouse zu reisen. Vier Woche in einer andere Stadt leben! Weil Südfrankreich schon damals nie verkehrt war und die Bilder bei der Googlesuche vielversprechend aussahen. Toulouse klang nach New Orleans, nach Mississippi, nach Wildem Westen, nach Eisenbahn und Wüste und es war egal, dass es eigentlich in Frankreich lag. Toulouse klang nach Spitzenunterwäsche und Hoch-das-Bein. Die Stadt konnte alles sein in meiner Vorstellung und es war nur folgerichtig, diesen Ort einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Aber es wurde dann Edinburgh und ich bildete mir ein, gleich mit Sack und Pack hin ziehen zu müssen.
Eines war jedoch identisch, mein tief in mir schlummernder Antrieb: ich liebe Städte! Ob Edinburgh oder Toulouse, ich liebe große Straßen und kleine Gassen, lauten Lärm und leise Lichter. Bin begeistert von entzückenden Cafés und pompösen Kaufhäusern. Schmiege mich gedanklich an all die Menschen, die diese Szenen bevölkern. Und doch, doch möchte ich eben diesen Männern und Frauen, Kindern und Alten keinesfalls wirklich zu nahe kommen. Nur im Vorbeigehen einen Gruß zu werfen und für den Moment eines Atemzuges in ihre Seelen blicken, das langt. Ich möchte nicht wissen, wo genau sie herkommen, warum sie so geworden sind, wie sie sind – und erst recht nicht, wie es mit ihnen weiter geht. Sollen sie doch selber die Taschen ausleeren, die sie belasten. In meinem Galopp durch die Gassen schnappe ich mir nicht mehr als einen Pulsschlag ihres Herzens und hülle ihn in meine Worte.
Es ist wie beim Fotografieren. Für das Klicken einer Verschlusszeit teile ich mit einem fremden Menschen meine Existenz. Nur gehe ich beim Schreiben einen Schritt weiter. Ich trete aus dem Schatten meines Objektivs und öffne meine Augen, meinen Mund, mein Herz und meine Hände – und wir geben einander weiter, was uns zu diesem Moment geführt hat. Dann sind wir auch schon wieder getrennt.

Dieses ›schreiben was ich sehe‹, dieses ›durch die Gassen ziehen‹, das Entdecken und Erforschen, das ist es, was mir Freude macht. Einen Schritt weiter gehen, als mit dem Fotoapparat. Mag zwar ein Bild mehr als tausend Worte sagen, so können eine Handvoll Worte uns inniger berühren als tausend Bilder. Ganz ohne Plot und Happy End.
Aber das wusste ich noch nicht in Edinburgh.