Die Schreie der Möwe sind herzzerreißend. „Manchmal hängen die Kleinen irgendwo fest und kommen nicht raus“, klärt die Inhaberin des Frühstückscafés ihren Gast auf, dem sie gerade seine Bestellung bringt und dieser zunächst ein leidendes Kätzchen als Ursprung vermutete.
Ich sitze einen Tisch weiter, wo ich mir ein wunderbares Pistazien-Croissant schmecken lasse. Es ist mein vierter Besuch innerhalb zwei Jahren in der Hansestadt, der ältesten Deutschlands, übrigens.
Meine ersten beiden Trips, noch während Corona, dauerten jeweils nur zwei Übernachtungen, die ich überaus komfortabel im Hotel Anno 1216 verbrachte. Unten an der Trave. In Zimmer Nummer 5, einem der wenigen Einzelzimmer. Erkennungsmerkmal, neben dem geschmackvollen Holzinterieur: sehr, sehr niedrige Decken. Mit Mühen konnte ich es unterbinden mir ständig den Schädel zu stoßen.
Beim zweiten Logieren in dem altehrwürdigen Gebäude ging meine Zahnprothese stiften. Ein Backenzahn musste mir wegen einer schlecht gemachten Wurzelbehandlung entfernt werden und da ich mich lange nicht entscheiden mochte, ob ich diesen Verlust mit einem Implantat oder einer Brücke beheben wollte, gab es eine Prothese als Zwischenlösung.
Diese war jedoch erheblich unpraktisch. Immer mal wieder rutschte ein Speiserest-Krümelchen unter die Auflagefläche und machte das Kauen von Mahlzeiten abrupt unmöglich. Dazu rieb meine Zunge sich andauernd am Haltebügel, der einmal quer durch den Zahnraum ging. So trug ich das dentale Drahtdings meist nur Nachts und ließ es eines morgens in ein Tempotuch eingewickelt achtlos auf dem Nachttisch liegen, um mich zum Frühstücken hoch in die Fußgängerzone zu begeben.
Bei meiner Rückkehr hatte das Zimmermädchen ganze Arbeit geleistet und diejenige meiner Zahnärztin zunichte. Das Taschentuch war entsorgt.
Nach einem weiteren Jahr mit Backenzahnlücke entschied ich mich schließlich für eine Brücke. Das nötige Abschleifen der gesunden Zähne war die Hölle auf Erden.
Bei meinem dritten Aufenthalt kam ich via AirBnB mehrere Tage bei einem Kunstmaler unter, der figürliche Ölbilder auf Leinwand pinselte. Ein Vollblutkünstler. Seine Wohnung war auch gleich sein Atelier. Zwei separate Zimmer, welche für uns Gäste zum Mieten bereit standen, sicherten ihm wahrscheinlich seinen Lebensunterhalt. Denn mit Kunst ist das ja immer so eine Sache. Die Menschen, welche diese anfertigen, sind meist verschroben und die Werke, vor allen bei denen, die meinen davon Leben zu wollen, hängen irgendwo fest zwischen ›schon ganz okay‹ und ›aber so richtig geil, dass alle Welt jetzt total heiß darauf wäre und Unsummen zahlt, halt auch nicht‹.
Harte Arbeit, damit die künstlerischen Fähigkeiten deutlich an Zuwachs gewinnen, ist bei solchen Menschen meist auch nicht erste Wahl. Da hätten die ja gleich Dachdecker oder Bohrinsel-Ingenieur werden können.
Ein bisschen kratzt mich der Punkt selbst im Bart. Ungewiss, wohin meine Reise mit dieser Art Schreiben wohl hinführt. Und wie stark muss ich die Lernkurve biegen, damit die Ergebnisse sich lesen lassen können? Ohne, dass mir die Puste dabei ausgeht? Am Ende bin sonst ich der verschrobene Kauz mit zwei Ferienzimmern auf AirBnB.
Lübeckreise Nummer vier währte sieben Tage. Eine ganze Woche, bei der ich überlegte, ob ich nicht sogar in diese Stadt ziehen sollte! Aber ich muss noch einmal zurück springen, da sonst die Chronologie unstimmig und ich somit dem Leser oder der Leserin unaufrichtig gegenüber wäre.
Während ich so bei dem Kunstmaler nächtigte, der auch zwei Katzen sein eigen nannte, die aber nicht wirklich begeistert von der Idee waren, von mir gestreichelt zu werden, gönnte ich mir eines Abends einen süffig-süßen Cocktail im ›Dietrichs‹. Eine Edelbar, ebenfalls wie das Hotel Anno an der Trave gelegen. Ganz vorne beim Holstentor, wo es hinein in diese so bezaubernde Altstadt mit ihren grandiosen Hansehäusern geht – deren Fassaden anmuten, als wären sie allesamt liebevoll geschnitzte Marzipan-Model.
In einem dieser prachtvollen Kaibauten ist im Erdgeschoss nun die wohl schönste Cocktailbar untergebracht, in welche ich je einen Fuß gesetzt habe. Das ist nicht sonderlich schwer, weil ich deutlich öfter in Kuchen-Cafés unterwegs bin, als in Destillen-Domizilen. Doch wer möchte jetzt so kleinlich sein und diesen euphorischen Einstieg madig reden?
Es war ehrlicherweise noch viel zu früh, um in einer Bar zu sitzen. 19 Uhr. Die Sonne lehnte noch gaffend über einem Hausdach jenseits des Wassers und warf warme Aperitiv-Atmosphäre durch das Schaufenster. Außer mir füllten noch einige Lübeck-Touristen den Gastraum. Einer gar im Toten Hosen-Shirt und mit Multi-Funktionsjacke. Andererseits, wer sagt, dass in einer chicen Bar nur Menschen sitzen dürfen, die eine Verschnaufpause von Marketing-Meetings, Jet-Set-Reisen und Kunstvernisagen benötigen?
Ich bestellte einen alkoholfreien Mangococktail mit Weiße-Schokolade-Schaum, der mir unversehens gebracht wurde. Ein handgemixter Hochgenuss – so perfekt abgestimmt, wie die Optik um mich herum. Die setzte sich aus etwas offenem Backstein, dunkler Holzvertäfelung und schwarzen Beistelltischen mit Goldrahmen zusammen. Alles umschlungen von einer türkisfarbenen Palmentapete. 30 qm elegante Gemütlichkeit samt stylischen Flaschen im Regal.
Beim Bezahlen betraten drei elegante Frauen in ihren späten Zwanzigern die Bar, um sich an den letzten freien Tisch zu setzen. Die einzigen, die wirklich hier rein passten.
Schnell machte ich meinen Platz wieder frei. Dann war die Sonne auch schon vom Dach geklettert und hinterm Haus verschwunden.
Jetzt aber, jetzt komme ich zum meinem vierten und letzten Aufenthalt. Es war auch der Besuch, bei dem das eingeklemmte Möwenkind zur Frühstückszeit so kläglich jammerte.
Als Herberge wählte ich diesmal ein privates Zimmer in einem der Ganghäuschen. Diese entzückenden Behausungen sind die heimlichen Hauptattraktionen der Hansestadt. Das Gewirr der Gassen auf der Altstadtinsel ist ohnehin schon beengt und dicht bebaut. In manche Häuser scheint nie Sonnenlicht zu fallen. Dann, auf den zweiten Blick, entdeckt man bei vielen Häuserfronten kleine Durchgänge, vielleicht so 1,70 Meter hoch. Ich musste mich schon gut beugen, um durch diese Bögen zu gehen. Irrtümlich lässt sich schnell eine kleine Abstellfläche für Mülltonnen oder der Zugang zum Gerümpelhäuschen dahinter vermuten. Aber nichts von dem überraschte mich bei meinem ersten, arglosen Durchschreiten. Nein, hinter dem kleinen Hansehaus in einem kleinen Gässchen verbarg sich ein noch viel kleineres Gässchen mit noch kleineren Häuschen. Jonathan Swifts Liliput. Nur in Schleswig-Holstein. Und mit, doch recht normal gewachsenen Bewohnern. Aber Häuschen, wie aus einem vergessenen Land.
Die Sonne verfing sich günstig in den Hinterhofgängen, die wie Kerben mit Gottes Axt in den Stein der Mauern geschlagen waren. Die meisten Besitzer hegen und pflegen ihre Kleinode und so war üppige Balkonbepflanzung keine Seltenheit jenseits der Hauptgassen.
Natürlich entspann sich in meinem Kopf folgende Überlegung: Was wäre, wenn in diesen kleinen Hinterhofgässchen die Häuser ebenfalls kleine Durchgänge hätten? Nur noch so einen Meter, einen Meter Zwanzig hoch? Und man müsste schon hindurch kriechen, auf allen vieren, und am anderen Ende befände sich … Ja was? Wirklich ein mystisches Lilipiutreich mit Wesen, die uns Menschen nur knapp übers Knie gehen? In bunten Kleidern und immer nur am Tanzen? Oder doch vielmehr ganz irdische Habseligkeiten, die bestens verstaut vor Eindringlingen und Räubern gesichert werden müssten? Waffen und Munition. Leicht entflammbare Kanister mit Petroleum. Krüge mit dem besten Rum aus Übersee. Vielleicht waren Keller zu unsicher auszuheben, das Grundwasser jeden Frühling von unten am Drücken. So verstauten die Lübecker in meinem Gedankengespinst lieber ihr eingelegtes Obst und Gemüse in Dachstühlen – und wer keinen besaß, der mauerte sich einen kleinen Gang in sein Haus, welches sich wiederum in einem Gang in einem größeren Haus befand.
Und was wäre, wenn in diesem Gang im Gang – ganz ehrlich jetzt – in der Mauer dieses kleinen Verschlages, sich ebenfalls ein Loch oder eine kleine Tür befände? In den nächsten Gang? Und der wäre natürlich kein Gang für ein noch kleineres Volk als das der Liliputaner, sondern eine Art Safe oder Tabernakel, wo die Lübecker Bürger ihre wichtigen Schätze aufbewahrten. Gold, Dokumente, Ringe, Münzen, Elfenbein. Vielleicht auch nur das Taschentuch der geheimen Geliebten.
Aber weshalb sie das nicht unter ihrem Schrank, wie alle anderen Menschen auf dieser Welt, verstecken sollten? Ob 1813 oder heute? Weil dort natürlich jeder sofort suchen würde! Klar! Aber in einem kleinen Loch, in einem kleinen Gang, das zu einem Häuschen in einem nicht viel größeren Gang gehört, welches wieder hinter den Mauern eines schönen, jedoch nicht opulenten Hauses in einer lichtarmen, engen Gasse weit weg von Marktplatz oder Hauptstraße steht – da kannst du alles verstecken und niemand würde es jemals finden. Beweise für die wahren Attentäter Kennedys, eine Übersetzung vom Voynich-Manuskript, das Rezept für perfektes Marzipan – für alle Zeiten verborgen für den Rest der Menschheit.
Apropos Marzipan! Marzipan ist in Lübeck ganz offensichtlich und allerorten. Da will ich mit meinem Gebäck und meinen Keksen nicht stören und beschloss, ich denke sogar schon am allerersten Tag meiner Besuchswoche, doch nicht hier an die Küste zu ziehen. Zumal ein Ausflug nach Travemünde samt Blick hinaus auf das offene Meer mir vergegenwärtigte, dass ich mit diesem endlosen Nichts, dieser gespenstischen Tiefe des Wassers, kein bisschen zu tun haben möchte. Da unten lauert der Tod. Und mein herzzerreißendes Schreien würde im windigen Wellengang als stummes, verzweifelndes Blubbern enden.
Lübeck hat mir meine Zähne genommen, da wird es mir nicht auch noch mein Leben nehmen.