Ursprünglich wollte ich woanders übernachten, ursprünglich wollte ich aber auch ganz woanders wohnen. Aber jetzt bin ich stolzer Besitzer einer Eigentumswohnung in Leipzig und merke, wie es mich immer öfter in andere Städte zieht, um dort das Leben aufzusaugen, was sich in der sächsischen Messestadt nicht wirklich einstellen möchte. Daher stehe ich im Flur eines farbenfrohen Boutiquehotels in der Dresdner Neustadt und betrachte in voller Vorfreude auf das hiesige Nachtleben ein modernes Gemälde an der Wand neben meinem Zimmer. Heinrich Heine in amateurhaftem Pinselschwung. Dazu sein Zitat mit schwarzem Strich: ›Napoleon ist nicht von dem Holz, woraus man Könige schnitzt – er ist von jenem Marmor, woraus man Götter macht.‹
Das zweite Komma wurde bedauerlicherweise während des Schaffensaktes vergessen. Nur die Bleistift-Vorzeichnung ist zu sehen.
Ein Bild weiter hängt Beethoven, einst ebenfalls ein bekennender Bewunderer Napoleons und moniert, der frisch gekrönte Kaiser wird, ob kurz oder lang, ohnehin nur ein Tyrann werden. Recht hatte er.
Napoleon ist in Dresden – dies als Erklärung – deutlich relevanter als in, beispielsweise, Brunsbüttel. Er errang hier im August 1813 einen seiner letzten Siege auf deutschem Boden. Zwei Monate später war nach der Leipziger Völkerschlacht für ihn alles aus und vorbei.
Bei mir fängt es gerade an, das heutige Erlebnis. Einen richtigen Plan für diesen Ausflug habe ich aber nicht. Nur später in der Pension etwas essen, in welcher ich eigentlich nächtigen wollte. Leider war sie ausgebucht. So habe ich mich für das Boutiquehotel mit den bunten Wänden entschieden und trete neugierig ins Freie hinaus. Noch ist es Tag, doch die Sonne hält sich matt hinter einem Wolkenband zurück. Kalte November-Vibes aus jeder zugigen Ecke. Ziellos wandele ich frierend durch die rechtwinkligen Straßen des Viertels. Natürlich bin ich etwas zu dünn angezogen. Aber ich bin auch ein Rappelpeter mit keinen Gramm Fett zu viel.
Dresdens Neustadt, ein als perfekte Segelform in den Stadtplan gezurrtes Gründerzeitviertel. Die entsprechende Rundung gibt der Flußlauf der Elbe vor.
An den Fassaden finden sich bunte Graffiti, die, von mir so geschätzten Streetartplakatierungen und mein Gestalterherz in höchste Höhen schlagen lassende, abblätternde Ladenlokal-Beschriftungen. Urbanes Vintage, sozusagen.
Dazu nette Cafés, szenige Shops und jede Menge wütender Gegenwind. Protestplanen wie ›Unser Kiez‹ oder ein mit ›Wohnopoly‹ gelabeltes, leerstehendes Haus. Leer und herunter gekommen. In dem seit jeher sehr linken Viertel wird um seine Lebensgrundlagen gekämpft. Hippe Antifa-Gallier, umgeben von sächsischen Neonazi-Römern und ortsfremden Haifisch-Piraten.
Erich Kästner wurde hier geboren. Das mag die Denkweise der hier lebenden Dresdner:innen erklären. Oder die Denkweise Kästners. Hierarchien und Autoritäten finden jenseits der Elbe im altehrwürdigen Teil rund um Zwinger oder Frauenkirche weit mehr Anklang. Diesseits wurde lieber die erste Milchschokolade entwickelt. 1839. Anfangs noch mit Eselsmilch.
Zu Zeiten der DDR sollte dann alles zwischen Albertplatz und Alaunpark abgerissen und für eine Plattenbausiedlung weichen. Die entsprechende Hinweistafel finde ich aber nicht mehr.
Meine Gedanken an Schokolade lassen mich hungrig werden. Schnellen Schrittes suche ich die Kunsthofpassage auf, besser, das dort ansässige ›Café des Lichts‹.
Beim letzten Neustadt-Besuch warf ich nur einen kurzen Blick hier herein. Am Zweiertisch neben der Wand zupfte da gedankenverloren eine Dame Schafswolle zu ihrem Kräutertee, während am 5er-Tisch, hinten in der Ecke, eine junge Frau mit weißem Mantel, weißen Handschuhen und weißem Haarband von ihrer Entourage umringt aufgeregt in die Runde schaute. Es wirkte, als würde sie am Abend einen großen Auftritt haben. Kleinkunstbühne. Bestimmt Gesang. Oder war ihr großer Moment schon passé und sie und ihre – mutmaßlich – Familie feierten die gelungene Performance?
Ich weiß es nicht, weil ich nur wenige Sekunden in dem Café stand – auf den breiten Holzdielen, die den kleinen Raum mit den höchstens sechs oder sieben Tischen so gemütlich erscheinen lassen.
Heute trenne ich stumm ein Stück Waldbeerentorte mit der Gabel ab und schiebe es mir in den Mund, während meine Aufmerksamkeit nach rechts wandert, zum Wellensittich im Käfig.
Vogel und Gefängnis sind nur gezeichnet. Hartes Schwarz auf pistazien-pastelligem Putz. Ebenso wie ein Globus auf der gegenüberliegenden Seite, zwei Zimmerpflanzen oder das mit Zierrat befüllte Barockschränkchen am Eingang.
Alles überaus heimelig. Wie der Kunsthof insgesamt.
Ende der 90er beauftragte ein Projektentwickler diverse Künstler und Künstlerinnen das herunter gekommene Häuserensemble an der Alaunstraße unter Bezugnahme verschiedener Mottos zu renovieren. So gibt es den Hof der Tiere, den Hof der Elemente, einen für das Licht, einen für Fabelwesen und sogar eines mit dem, seit jeher der Künstler:innen liebstes Thema: Metamorphosen. Überall in den Höfen, ob am Haus dran oder allein stehend auf dem Boden, finden sich Tierskulpturen, Metall-Installationen oder Musterreliefs. Dem alternativen Rahmen entsprechend wurde sich bei der Abwechslung der Wandfarben nicht zurück gehalten.
Nach kurzer Verschnaufpause in meinem Boutiquehotel ist es abendliche Essenszeit im ›Raskolnikoff‹. Das kommunistisch anmutende Sowjet-Restaurant mit integrierter Kunstgalerie und Gästepension ist freilich weder das eine noch das andere, kommunistisch oder sowjetisch. Doch für mich als Westmensch klingt allein der Name ›Raskolnikoff‹ nach ›Krieg und Frieden‹ – ist aber aus ›Schuld und Sühne‹, wie ich später recherchieren werde. Überdies prangert auf der Speisekarte eine Axt als Logo, was die Sibrische-Holzfäller-Stimmung nur brachialer unterstreicht.
Ein Zimmer gab es, wie bereits erwähnt, nicht für mich. Dafür Bergkäse-Pelemi mit Speckrosenkohl und Birne. Sehr köstlich. Aus einer Küche, die laut ›Feinschmecker‹ in die Kategorie ›Die besten Restaurants für jeden Tag‹ fällt. Steht draussen prominent angeschlagen.
Raskolnikoffs schmucker Gastgarten ist mit Laub und Laternenlicht bedeckt und leider leer, weil geschlossen. Offen hingegen ist die Galerie im ersten Stock. Eine Ausstellung von Laienkünstler:innen. Alles ehemalige Kinder von Wochenkrippen aus den 50ern und 60ern. In den Bildern aus Farbe, Fotos und Briefen: Schmerz, Trauma, Trennung, Angst. Zum Teil schon ab der 6. Lebenswoche.
Eine ehrenamtliche Helferin, und selbst ehemaliges Wochenkrippenkind, erklärt mir die Zusammenhänge. Der Arbeiterstaat musste seine Fabriken voll bekommen. Da blieb nicht viel Zeit für familiäre Care-Arbeit. Und bevor im privaten Rahmen irgendwer auf anti-sozialistische Gedanken kam, war es auch ganz nützlich, dass die Kinder mehrheitlich vom Staat betreut wurden. Betroffen wie zeitgleich froh, vom Leben doch eine andere Biografie, wie auch heutige Unterkunft zugewiesen bekommen zu haben, ziehe ich in die Neustädter Nacht. Mein Schlaf wäre, nur eine Mauer weit von so viel erschütternder Realität, nicht sonderlich erholsam geworden.
Wieder auf der Straße raucht ein junges Pärchen wahnsinnig ästhetisch vor dem Leuchtkasten des Thalia-Kinos. Es laufen die Filme ›No other land‹ und ›Aurora‹.
›Cinema, Coffee & cycling‹ steht über dem Lichtspielhaus.
50 Meter weiter, dort wo die Louisenstraße auf die Rothenburger und die Görlitzer trifft, die beide nicht exakt geradlinig ineinander gehen, sondern leicht versetzt, da hat sich durch diese Städtebaukonstellation scheinbar besonders viel Ecke ergeben. Ecke zum Herumstehen, Ecke zum Bierchen Trinken. Ecke für das ›Café Continental‹ oder die ›HORST, Vier Vogel Bar‹. Daneben reihen sich noch die ›Pinta Bar‹, das ›Little Creatures‹ und der Open-Air-›Louisengarten‹, indem jetzt Glühweinbuden aufgebaut sind. Drüben in der Alaunstraße geht es weiter.
Mir gefällt das dicht gedrängte Zusammenrotten der Feierlaune. Alles nur einen Kronenkorken-Plopp hörbar entfernt. In Leipzig ist das anders. So auseinandergerissen und langgezogen. Hier die ewige ›Karli‹, dort ein bisschen Gottschedstraße, jenseits des Kanals geht es auf der Karl-Heine weiter und der harte Kern trifft sich im Barfußgässchen neben der toten Fußgängerzone. Meistens bleibe ich daheim auf dem Sofa.
Auf dem Trottoir vorm ›HORST‹ fühlt es sich von ganz alleine nach Wohnzimmer an, was mein Stichwort ist weiter zu gehen. Über die Kunsthofpassage. Durch den Hof der Elemente, hin zu dem der Fabeltiere. Aus dem ersten Stock fällt Licht auf das Hofpflaster. Im Ballettstudio Espiral steht ein Mann, Anfang Dreißig, mit weißem Shirt, offenem Holzfällerhemd und blondem Lockenkopf am Fenster und verbiegt elegant seinen Körper zu anschmiegsamer Klaviermusik. Der Lehrer? Nein ein Schüler! Der Lehrer gibt Anweisungen aus dem Off.
Es ist so friedlich vorweihnachtlich gerade. In meinem Kopf werden die Anfangscredits einer romantischen Hollywood-Liebeskomödie an die dunklen Wänden rings um das erleuchtete Fenster projiziert. ›Newtown Films proudly presents an Artyard Metamorphosis Production…‹ Was wohl die mutmaßliche Sängerin im weißen Stage-Outfit gerade macht? Ist sie ebenfalls ganz in ihre Kunst versunken? Bildet sie mit dem Holzfäller-Lockenkopf ein russisches Ballett-Pärchen am Tresen des Raskolnikoffs? Die Axt nicht in der Hand, aber auf der Speisekarte? Und ist das nicht schon alles viel zu Klischee?
Ein älteres Pärchen bleibt jetzt ebenfalls stehen, um gebannt nach oben zu schauen.
Im ›Wohnzimmer‹, das Stichwort fiel nicht zufällig, einer Szenebar in der Alaunstraße, sitzen viele junge Menschen. Reden. Lachen. Prosten sich das Wochenende herbei. Ein ausgemachter Safespace mit einer überraschend hohen Anzahl an alkoholfreien Cocktails, allesamt vegan – sollten Sahneprodukte im Rezept stehen. Eingerichtet mit Plüschsofas, goldenen Bilderrahmen, die Wände in Gelb- und Rottönen gehalten. Unsere Großmütter hätten sich hier wohl gefühlt.
Neben mir sitzt ein Date und diskutiert über Traumata und Kritikfähigkeit. Zumindest sie. Er, kurze Haare, breite Schultern, versucht mit ihrer offensiven Offenheit mitzuhalten. Gewichte stemmen fällt ihm sichtlich leichter.
Ich wette, er mag ihre großen Brüste. Sie schiebt ihren Oberkörper aber auch angetan auffällig in seine muskulöse Richtung.
Die Credits sind vorbei. Die Exposition hat begonnen. Napoleon muss besiegt werden, die Liebe alles retten. Ich werde im Sommer wiederkommen. Leipzig wird sich dann immer noch nicht nach Zuhause anfühlen. Doch hier, wenn die nächtliche Hitze gegen das Segel der Neustadt drückt, gleiten meine Gedanken weiter zu neuen Ufern.