Ich träume, dass ich aufwache. In meinem alten Kinderzimmer, unten im Erdgeschoss. Der Traum ist immer derselbe: Ich wache auf, gehe raus in den Flur (links das elterliche Schlafgemach, rechts das Bad) und niemand ist da. Alle weg. In manchen Träumen weiß ich, dass unser Haus längst verkauft ist und deswegen wohl schon alle ausgeflogen sind. Nur ich bin noch da. Dann gehe ich ins Schlafzimmer der Eltern und schaue aus dem Fenster. Von dort hat man direkte Sicht auf die Einfahrt. Kommt doch jemand zurück? Und wenn ja, wer wird es sein?
Als Kind stand ich dort tatsächlich öfter Ausschau halten.
Dieses Mal ist der quälende Blick aus dem Fenster nicht Teil des Traumes, dieses Mal bin ich schlauer. Das Schlafzimmer lasse ich nämlich links liegen und gehe den Flur entlang Richtung Haustür, welche sich auf der gegenüberliegenden Seite der Auffahrt befindet. Erleichtert trete ich raus ins Freie. Zum ersten Mal nach fünfzehn Jahren Traumhistorie. Seit das Haus zwei wildfremdem Menschen gehört.
Es ist kühl und nieselt leicht. Ich möchte mir irgendetwas in meine Hosentasche stecken, habe aber nur einen dünnen, taschenlosen Pyjama an.
Hier ist es ungemütlich, denke ich mir, außerdem muss dieses ewige Rumstochern meines Unterbewusstseins endlich aufhören. Ich will das alles hinter mich bringen.
Mit einem inneren Ruck wache ich auf und taste nach der Nachtischlampe. Sie funktioniert nicht. Klick-Klack, der Schalter löst kein Licht aus. Dann also die zweite Lampe, eine, bei der man einen Faden nach unten zieht. Es wird hell und verwundert stelle ich fest, dass ich mich wieder in meinem alten Kinderzimmer befinde. Nur diesmal mit grauenhaft spießiger Holzvertäfelung und Matchboxautos auf dem Schreibtisch. So Spielzeug besaß ich nie. Zaghaft trete ich raus auf den Flur und auch hier schaut alles anders aus. Tapeten im Siebziger Jahre Dunkelgrün mit Goldmuster. Wer wohnt so?
Meine Beklommenheit steigt sprunghaft an. Ich gebe mir erneut einen Ruck und wie bei einer schlechten TV-Überblendung faded sich mein Verstand in die Realität meiner Leipziger Wohnung.
Es ist Drei Uhr Früh. Auf eine surreale Art passt dieser Inception-Wahnsinn ganz gut zur Tatsache, in 6 Stunden Richtung Prag aufzubrechen.

Prag. Mindestens 10 mal war ich schon hier an der schönen Moldau. Das erste Mal 1995 auf Klassenfahrt. Diesen Sommer 30 Jahre her! Wir alle waren geflasht von den Jugendstilpalästen, dem staubigen Überbleibsel des Kommunismus, den verwinkelten Gässchen der Altstadt, dem unermüdlichen Hin und Her auf der Karlsbrücke – und selbstredend von den Preisen. Am ersten Abend führte unser Weg auf besagte Brücke, wo wir am Hradschin-seitigen Ufer einen kleinen Supermarkt mit einem Gebäcksortiment bis unter die Decke entdeckten. Kolatschen, Semmeln, Hörnchen … Jede Ware im Pfennigbereich. Eine Tüte mit sieben Gebäckstücken für umgerechnet eine Deutschmark. Wie Raben fielen wir über die Regalkörbe her.

Den Supermarkt gibt es noch, das Backwarensortiment wurde deutlich eingedampft. Nach Vergangenheit ist mir gerade ohnehin nicht, also starte ich kulinarisch in der Gegenwart, im Naše Maso am Platz der Republik. Tschechiens beste Fleischerei. Links eine Imbissbude, rechts ein Verkaufsraum. Dazwischen wird gehackt und gebraten. Alles im Industrial Chic. Als Logo ein blaues, von einem Knochen durchstochenes Herz. Sehr stylisch und Instagramkompatibel. Dort ist mir die Metzgerei auch das erste mal aufgefallen.
Meine Wahl fällt auf einen Cheeseburger, der zwar durchaus köstlich, mir aber ein klein wenig zu rare ist.
12 € wird dafür aufgerufen. Besonders groß war der Burger (ganz ohne Beilagen) nicht. Für das Geld hätte ich bei meinem ersten Pragbesuch das halbe Brötchenregal leer kaufen können.

Tags drauf ist das Prager Schinkensandwich mehr mein Fall. Gekochter Schinken, kurz angebraten, serviert mit Essiggurke zwischen zwei Sauerteigbrotscheiben. Es kann so einfach sein!
Auf den Weg zum Fleischparadies bummelte ich zuvor noch die Prachtstraße Pařížská entlang, wo sämtliche Gewerbeeinheiten von Luxuslabeln in Beschlag genommen wurden. Balenciaga, Bulgari, Rolex, Patek Philipp. Alle neben einander. Der Weg führte weiter ins Jüdische Viertel, dort wo die Kafka Statue steht. Zumindest zu dem, was mittlerweile aus dem Viertel geworden ist.
Um meine Gedanken aufzufrischen öffnete ich die Tür zu einer kleinen Kafka-Buchhandlung und sprach die Dame hinter dem Geschäftstresen an. Sie dürfte ein paar Jahre jünger sein als ich. Eine Pragerin und sie erinnerte sich, wie es Mitte der 90er hier ausgesehen hat. Die Häuser waren schön, aber verstaubt. Nicht so tiptop-saniert wie heute. Und es gab jede Menge Antiquariate rund um die Spanische Synagoge.
›That‘s true‹, nickte ich. Die inneren Bilder kamen wieder. Überall wurden alte Bücher verkauft. Manchmal auch Möbelstücke. In Geschäften oder auf Marktständen. Für uns Jugendliche war das Großmutters Gerümpel von vor dem Krieg. Heute blitzt nur noch wenig altes Prag hier und da auf. Ob für uns Touristen, die allgemeine Folklore oder weil so mancher Verkäufer nicht von seiner Leidenschaft lassen kann, bleibt offen.

Am Nachmittag lasse ich die Altstadt hinter mir und trabe Richtung Karlín, ein Stadtteil mit modernen Bürokomplexen. In einer aufgepeppten Industriehalle dreht im ›Eska‹ frischer Sauerteig seine Runden in den Rührkesseln. Sie ist möglicherweise DIE Prager Szenebäckerei. Ein Foodspace irgendwo zwischen Mensa und Sterneküche. Alles blitzblank verchromt. Die großen Brotlaibe stehen in Reihe und Glied. Im Verkaufsregal sehen die selbst eingelegten Obst- und Gemüsegläser wie Kunstinstallationen aus. Ebenfalls zu kaufen gibt es eingeschweißte Waren von Naše Maso. Kein Zufall. Das Brot um den Schinken heute Mittag kam von hier.
Ich entscheide mich für einen Teller Crêpe mit gesüßtem Frischkäse, Marmelade und eingelegten Pflaumen. Die heiße Schokolade dazu ist der Hammer.
Währenddessen scheint der Boss dieses modernen Brottempels nicht mit der Breite der neuen Laibe zufrieden zu sein. Als Vergleich nimmt er zwei ältere Scheiben und hält sie über ein frisches Brot. Angeregt diskutiert er mit dem Operator der Öfen.
Beim Verlassen nehme ich noch eine Tafel der Schokolade mit, aus der auch mein Heißgetränk bestand. ›HERUFEK‹ heißt die Manufaktur und ich gönne mir die Sorte, in der Brotkrümel von Eska eingearbeitet wurden. 55 Gramm für 5,77 €. Bei meinem ersten Pragbesuch hätte ich mir dafür … ach, lassen wir das.

Mit vollem Magen kraxle ich den Veitsberg hoch, rauf zum Nationaldenkmal. Das Reitermonument kommt mir bekannt vor. 9 Meter hoch, 16 Tonnen schwer. Dahinter eine mehrstöckige Ehrenhalle. An Gedenken des Hussitenführers Jan Žižka. Ein einäugiger Haudegen, der keine seiner Schlachten verloren hat und den erst die Pest dahin raffen musste.
Sowas vergisst man doch nicht. Andererseits steht in Budapest auch ein riesenhaftes Nationalmonument auf einem Berg. Gelegentlich fällt es schwer seine Eindrücke auseinander zu halten.

Der Ausblick ist jedenfalls phänomenal. Bis zu den hintersten Linien der Stadt. Mittlerweile neigt sich das Tageslicht seinem Ende. Auf den Straßen fahren die Autos schon mit brennenden Scheinwerfern. Alles brummt und hupt emsig durch die Häuserschluchten. Prag ist hügeliger als vermutet. Ähnlich wie Rom. Verstecken braucht sich die tschechische Hauptstadt schon lange nicht mehr. Vorbei sind die Zeiten des billigen Pivo und der laschen Knedlíky in fettiger Soße. Es ist schön zu sehen, wie selbstbewusst es hier an der Moldau mittlerweile zugeht.

Sofort sprudeln Fragmente vergangener Besuche aus meinem Gedächtnis. Wie wir zu fünft im vollbesetzten Ford Fiesta über die Autobahn brausten und dabei nur mühsam von einem fast leeren 3er BMW überholt werden konnten – am Steuer ein einzelner, grinsender Depp, der sich für ein paar Kilometer auf der A3 wie Michael Schumacher vorkam.
Das kleine Reisebürohäuschen am Stadtrand. Ihm galt immer unser erster Halt, dort bekamen wir eine Herberge für die folgenden Nächte zugeteilt. Alles immer private Unterkünfte. Immer mit herzlichen Gastfamilien und mit Händen und Füßen-Kommunikation.
Die Pizzeria ›Kmotra‹ in der Nähe des Nationaltheaters. Ein unscheinbares Seitenstraßenrestaurant. Oben Bar, die Treppe in den rustikalen Keller hinab eine Steinofenpizzeria. Bei jedem Besuch musste vorbei geschaut werden.
Einmal, da lebte ich schon in Wien, spuckte mir dort vor Lachen eine Freundin ihre heiße Margarita ins Gesicht. Wir waren zu fünft angereist. Drei Mädels, zwei Jungs. Ich wette, mit meinem heutigen Händchen wäre es damals in unserer Unterkunft zu veritablem Gruppensex gekommen.
Und natürlich der Doppelgong mit dem anschließenden Satz der Sätze: ›Ukončete, prosím, výstup a nástup, dveře se zavírají.‹ Die Türen schließen sich und die U-Bahn fährt los. Jeder Pragtourist nimmt diese Sprachmelodie im Kopf als Souvenir mit nach Hause. Mein bester Freund aus Schultagen fertigte nach der Klassenfahrt einen Remix davon zu den Klängen von Smetanas ›Moldau‹.

Jetzt höre ich keine Klassik, sondern Elektro. ›Colder‹ von Christopher Schwarzwälder und Iannis Ritter. Die Sound rinnt aus den Boxen, runter auf eine hundertjährige Werkbank und tropft auf blanken Beton. Die Werkbank ist der Besuchertresen, ich sitze dort mit großen Augen und blicke mich entzückt um. Das ›Kafé Garáž‹ fiel mir gestern auf meinem Weg zum Žižka-Denkmal auf. Ganz klein hat es sich an den Fels gedrückt. Im letzten Haus vor dem Tunnel, der durch den Veitsberg führt. Eine ehemalige Garage. Eher ein Bastelschuppen. Keine 15 qm groß. Jetzt hängt ein Surfbrett, ein Schirm, zwei Merch-Shirts und ein Paar ausgetretene Schuhe von der Decke. Rechts und links ist Plunder aufgebahrt.
Bert, der Betreiber, trägt einen grauen Bart und seinen eigenen Merch-Hoodie und ich überlege, ob ich mir eines der beiden Shirts zulegen soll, die über mir baumeln. Doch es wird nur ein kleines Fläschchen Granini-Apfelsaft, da es in diesem sehr speziellen und einzigartigen Café weder Heiße Schokolade und schon gar nichts entkoffiniertes gibt.
›Only the real stuff‹, brummt es hinter der Siebträgermaschine selig. Berts gute Laune ist Programm. Entlang der etwa 2,50 m langen Werkbank lehnt aberdutzendes, feinstes Vinyl an der Garagenwand. In der Ecke blinkt ein Plattenspieler und eine digitale Playlist gibt es auch noch. Für die Arabica-Afficionados nur das beste Ohrenkoffein.
Mit meinem Tweet-Dreiteiler und der Saftpulle passe ich zu dem Hidden Gem, wie eine Helene Fischer-Platte in Berts sorgfältig gewählter Sammlung. Er war mal Drummer, Produzent und Sound-Ingenieur, kommt ursprünglich aus den Niederlanden und hat die Garage vor drei Jahren von Studenten übernommen. Ein bisschen alter Krempel flog raus, seine Liebe zur Musik kam hinein.
Gerade sind wir bei ›Riders On The Storm‹ von Yonderboi angelangt und jede Wette: Drei Stunden gemütlich Cappuccino schlürfen, dann hast du dir deinen neuen Monats-Soundtrack bei Spotify geshazamt.

Zum Abschied kratze ich das letzte Lob, welches ich ihm noch nicht ohnehin schon gegeben habe, aus den Taschen meiner Schurwoll-Weste, dann weiß ich wieder, weshalb ich vom ersten Moment an so von Prag begeistert war. An jeder Ecke gab es etwas zu entdecken. Etwas, dass mit dem Begriff ›ehrlich‹ nur unzureichend und westlich arrogant beschrieben ist – und es doch auf den Punkt trifft. Ehrlich und ein Hauch mystisch. Kein Wunder, dass hier Kinder-TV-Klassiker wie ›Drei Nüsse für Aschenbrödel‹, ›Die Märchenbraut‹ oder ›Pan Tau‹ entstanden sind.

Gerne hätte ich Bert noch irgendetwas gefragt. Was auch immer für diese Geschichte spannend gewesen wäre. Aber mir fiel beim besten Willen nichts ein.
Ob er auch Pan Tau kennt?

Einen Besuch in der Pizzeria Kmotra lasse ich dieses Mal sein. Mit der U-Bahn fahre ich aber doch. Eine Station, von Florenc bis zum Bahnhof, zurück zum Hotel. Nur um mir kurz danach ein weiteres Ticket zu entwerten, mit dem ich über Muzeum nach Mustek und dann weiter, wieder zu Florenc fahre. Einmal im Kreis. Weil auf der Linie C, Florenc-Bahnhof, ein Mann die Tonbandansage spricht, ich aber den Sound der Frauenstimme der Linien A und B im Kopf habe.

Zwei Stunden später ziehe ich meinen Trolley über den Bahnhofsvorplatz und suche das Abfahrtsgleis meines Zuges.
Beim Einsteigen kommt mir noch eine Bemerkung der Kafka-Buchhändlerin von gestern in den Sinn. ›Hier wohnen nicht mehr viele Tschechen‹, bemängelte sie. ›Nur noch AirBnBs im Jüdischen Viertel.‹ Ob die Fortgezogenen noch von ihrer alten Wohnung träumen, überlege ich mir? Wachen sie Nachts auf, gehen ans Fenster und schauen runter auf die Kafka-Statue? Auf das schmale, bronzene Männlein, das von einem körperlosen Anzug mit Sakko und Hose Huckepack getragen wird. Und dann wachen sie wirklich auf, in ihrer neuen Wohnung, draussen am bezahlbaren Stadtrand und vermissen das Stöbern in den unzähligen Antiquariaten ihrer ehemaligen Heimatgassen?

Als der Eurocity los rollt, ist die Nacht so schwarz, als hätte ich meine Augen geschlossen.