Die Schönheit des Caffè Rubik lässt sich nicht in Worte fassen. Wobei das freilich nur eine Phrase ist. Tatsächlich machen gerade Wörter ebendiese Schönheit aus. Tausende von ihnen. Hunderttausende oder wahrscheinlich sogar Millionen. Einzig: sehen lassen sich nicht, nur hören. Im Kopf. Wörter aus dem Mund von Elvis Presley, Annie Lennox, Sting, Phil Collins, Robert Plant, ach, wahrscheinlich alle. Wörter, gesungen und fein säuberlich in Holzregale sortiert, als Musikkassette. Der gesamte Unterbau der Theke ist mit Tapes aus wahrscheinlich 3 Jahrzehnten befüllt. Kauftapes. Richtige Alben.
Sicher 150 Exemplare insgesamt, meint die hübsche Italienerin im olivgrünen Sommerkleid, die neben mir steht und darauf wartet, dass die Toilette frei wird.
Draussen auf den Tischen unter den Arkaden sind die wenig vorhandenen Plätze belegt. Es ist ja Hochsommer. Mir blieb nur die schmale Stelle rechts vom Eingang, wo ich mich an die seitliche Wand presse, damit Bedienung und Gäste noch genügen Platz haben durchzukommen. Dort genieße ich meinen Virgin Mojito, während ich mein Notizbuch voll kritzele und wartende Schönheiten anquatsche.
Nein 151, korrigiert sie sich im Scherz. Außerdem sei sie beschwippst, da ließe es sich nicht gut schätzen. Dann fällt ihr die Wand hinter mir auf, an der rund um einen Spiegel weitere, mit der Musikgeschichte gut bestückte Holzkästen angebracht wurden.
Ach nee, viel mehr, ist sie sich sicher, mag aber dennoch keine endgültige Anzahl nennen.
Sie gefällt mir. Italienerinnen sowieso. Leider sitzt ihre männliche Begleitung auf einem der raren Tische vor dem Eingang.
Das Caffè ist winzig, die Toilette befindet sich hinter der Theke und als Gast muss man die Betriebsfläche durchqueren, was in Deutschland sicher jede Behörde höchstamtlich verbieten würde. Im Winter gibt es offensichtlich gar keine Möglichkeit sich zu setzen – oder die Bolognesi sind kälteresistent und lassen sich ihre Freisitze nicht verderben.
Was ist denn deine Lieblingsmusik, frage ich die Belladonna, um unser Gespräch ein wenig in die Länge zu ziehen.
Sie beugt sich runter zum Unterbau der Theke und ist tatsächlich so geistesgegenwärtig, um lachend auf die Sprachkassette: ›L`Inglese perte‹ zu zeigen. Von wegen. Mein Englisch war in manch heutiger Konversation holpriger als ihres gerade.
Aus Gründen, die ich vergessen habe, lasse ich sie mein Alter schätzen und wir stellen fest, dass wir beide im Oktober Geburtstag haben. Sie am 6. und ich am 12. Wie passend. Dann geben wir uns ein Waage-High-Five.
Überall im Raum strahlen 80er-Jahre Spielzeugroboter, Vintagekrempel und Grafittikunst auf die Gäste herab. Die Rückseite der Klimaanlage wurde gekonnt mit dem Caffènamen bemalt. Wobei das ›B‹ in ›RUBIK‹ das Gesicht eines affenartigen Menschen darstellt, in diesem 2000er-Tag-Streetart-Design. (Oberer Bogen: Augen und Haare, unterer Bogen: Mund und Kinn). Als buchstäblich, buchstäbliches i-Tüpfelchen ist das ›RUBIK-I‹ eine Zigarette im Mund des Monkeymännchen und der i-Punkt selbst abstrahierte Rauchblasen. Sensationell! Wie vom Erfinder Ernő abgesegnet schwebt dem Affen auf Brusthöhe, klar, ein Rubik-Würfel.
Ob der Ungar je mal seinen Fuß in diese winzig-feine Caffetteria gesetzt und sich ein Cappuccino mit Cornetto gegönnt hat? Erst tags darauf komme ich auf die Frage. Schade, da entging mir eine mögliche Anekdote für diesen Text hier.

Dafür löchere ich den nächsten, auf die frei werdende Toilette wartenden Gast. Diesmal ein Deutscher, wie ich beim Vorbeigehen an den Tischen sofort vernommen habe.
Wie viele Kassetten, was schätzt du?
Mindestens Tausend, meint – echt jetzt – Jonathan und ich muss grinsen. Mein Namensvetter hat blond gefärbte Locken, trägt schwarz lackierte Fingernägel und stylischen Goldschmuck. Die Sonne seiner Erasmus-Semester-Stadt hat er, seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, umfangreich ausgekostet.
Jonathan studiert Kommunikations-Design in Augsburg und ich bin ein bisschen vergrämt, dass ich damals nicht halb so cool war wie er. Ein Auslandssemester kam für meine Bequemlichkeit und Feigheit nicht in Frage. Immerhin bin ich als Ausgleich mit Sack und Pack und Diplom in der Tasche nach Wien gezogen. Wir plaudern ein bisschen Smalltalk, während der Barkeeper Sellerie für die nächsten Bloody Marys püriert. Eine schöne Atmosphäre, die mich an das ›Kafé Garáž‹ in Prag erinnert.

Weil ich nicht die dritte Person anquatschen möchte und mir letztlich die genaue Menge der Musikkassetten egal ist, ich könnte sie ja grundsätzlich auch zählen, ziehe ich weiter Richtung City. Auf der Piazza Maggiore ist ein Open Air Kino aufgebaut und das Programmplakat verrät mir, Jim Jarmusch verpasst zu haben. Gestern. Da präsentierte er seinen Vampirfilm ›Solo gli amanti sopravvivono‹, im Original und auch als deutscher Titel: ›Only Lovers Left Alive‹.
Anfang August gibt sich sogar niemand geringerer als Wes Anderson die Ehre hier drei seiner Filme vorzustellen. Bis dahin bin ich jedoch längst abgereist.

Eines ist aber sicher, beide, Wes sowie Jim, insbesondere Jim, lieben dieses winzige Caffé Rubik, selbst wenn sie es gar nicht kennen. Es liegt mitten im Künsterviertel Bolognas, dort, wo dutzende, großartige Streetart die satten, orangefarbenen Häuserwände verzieren und jedes Gestalterherz zum Hüpfen bringt.
Ich wette, Wes, Jim und natürlich auch Ernő kannst du auf der Piazza Maggiore aussetzen und keine Stunde später sitzen sie bei einer Bloody Mary auf den winzigen Tischen unter den Arkaden und bestaunen beim Bestellen die hunderten oder tausenden, es war ja nicht herauszufinden, Musikkassetten. Weil wir Kreativen uns gegenseitig immer finden. Überall. Unsere Augen sind darauf trainiert das abwegige ausfindig zu machen. So wie diese Warnschrift auf der Hinreise am Bahnhof Trento. ›Das Überschreiten der Geleise ist verboten!‹ Der ›Geleise‹! Ha! Jeder Deutsche amüsiert sich und der Schweizer oder Österreicher wundert sich weshalb? Nur, wer schaut so genau hin? Oder denkt da Tage später noch über ein zusätzliches ›e‹ nach? Ernő natürlich. Und Jim und Wes. Meinen Namen lasse ich in dieser illustren Runde ehrfürchtig außen vor. Aber wenn wir alle im zusammen im Rubik sitzen, dann spreche ich es sicher an.