Sämtliche Waren im Supermarkt stehen als Verpackungseinheiten im Regal. Obst, Kekse, Sonnenblumen. Die Basics des täglichen Bedarfs, immer im 6er, 12er oder 24er-Verbund. So ist es ökonomischer, spart Geld, wirkt für den Kunden paradoxerweise dennoch reichhaltiger. Typische Discounter-Psychologie. Vor dem Eingang türmt sich eine Europalette sauer eingelegter Kraut-Paprika-Peperoni-Mix im 5-Liter-Plastikbehälter.
Ein Blick in den danebenliegenden Geschenkeladen offenbart eine Milchstraße aus Gold, Tüll und Glitzer. Dem gegenüber schimmern die Schilder und Schaufenster zahlreicher Geschäfte, sämtliche freie Flächen dazwischen sind gesprenkelt mit Graffiti oder Plakaten. Das Pipe Rock and Irish Dance-Ensemble lockt mit der Geschichte der Highland-Rose, Nino De Angelo verspricht ›Irgendwann im Leben‹ und mit ›come with us‹ verführt uns AMORELIE zum Shoppen auf ihre sündige Website.
Um all das herum fließt ein steter Strom an Menschen jedweder Nation. Die Eisenbahnstraße im Leipziger Osten ist ihr ganz eigenes Multiversum.
Und die Sonne, der Punkt, an dem die kosmischen Fäden dieser beinahe polyplanetaren Existenzen zusammen laufen, ist das ›Brothers‹. Ein geräumiges Café-Restaurant mit Burgertheke im Nebenraum. Es gibt süße Backwaren und gefüllte Börek. Es gibt diverse Eierspeisen und fleischhaltige Schmorgerichte. Es gibt lachendes Beisammen sein und gefräßige Stille. An die 50 Sitzplätze laden zum Innehalten ein, während durch große Straßenfenster das harte Herbstlicht knallt.
Mein Açma, welches ich anstelle eines Fladenbrotes ordere, zerfällt fast auf der Zunge. Ein daunenweiches, wolkenluftiges türkisches Brioche in Ringform, für das anstelle Milch Joghurt genommen wird, um eine leichte Säure zu erzielen.
Dazu gibt es Pilz-Omlette, garniert mit Oliven, Gurke und Tomatenscheiben. Zum Trinken habe ich eine heiße Schokolade gewählt.
Fast alle Plätze sind besetzt. Schräg von mir sächselt ein Mittsechziger ins Telefon. Im Nebenraum sitzt ein farbenfroh gekleidetes Best-Ager-Paar einem jungen Mann im bieder-karierten Flanellhemd gegenüber. Höchstwahrscheinlich der Sohnemann. Kann aber auch ihr türkischer Guide für die Tour nach Pergamon sein. An einem Ort wie diesem hier lässt sich das unmöglich genauer definieren.
Natürlich übt das Nahöstliche, wie alles Fremde, eine starke Faszination auf uns Europäer aus. Auf uns Menschen allgemein. Jenseits aller politischen und religiösen Unterschiede bin ich selbst ein großer Fan von allem mediterranen, ganz gleich, ob auf europäischer oder afrikanischer Küstenseite.
Dieses Gewusel, dieses sorglose Sammelsurium, welches sich wahrscheinlich nur Menschen erlauben können, die in warmen Klimazonen leben. Alle im hohen Norden müssen Ordnung halten, um gut über den Winter zu kommen. So war es zumindest einmal.
Die Moderne, vor allen, die akademisch bestens ausgebildete, genießt den lebhaften Charme ihrer ›Eisi‹, wie die Leipziger die einst gefährlichste Straße Deutschlands zärtlich nennen.
Hinter einer Säule im Sitzbereich lugt die Krempe eines schwarzen Cowboyhuts hervor, der zu einem stattlichen Mann in schwarzer Weste, schwarzen, spitz zulaufenden Lackschuhen mit silbernen Schnallen und einem hängenden, 60er Jahre Western-Spitzbart gehört.
Des weiteren sind fünf Männer und ein Kind mit ihm am Tisch versammelt. Alle schwarz gekleidet. Alle bester Statur. Vor ihnen stehen silberne Kaffeekännchen und Wasser in 0,5 l PET-Flaschen. Ihr Gespräch ist wild und lautstark. Vergleiche zu einem kolumbianischen Kartell drängen sich mir auf. Doch hier, hier im Brothers, an einem Vormittag unter der Woche, könnte die Bande auch aus einem US-Zeichentrick-Kinderprogramm in die mitteldeutsche Realität geklettert sein.
Auf meiner Gabel spieße ich gerade die letzten Bissen des Omlettes auf, da richte ich meine Aufmerksamkeit vorsichtig zu dem durchtrainierten Typ neben mir. Anfang Dreißig. Eine Mischung aus Student und Navy Seal. Den Kopf bedeckt mit einer türkisblauen Beanimütze. Vor ihm ein zerlesenes Paperbackbüchlein, ein schwarzes Notizheftchen in Größe A6, ein Coffee-to-go-Becher, dazu ein Franzbrötchen aus der Tüte. Vielleicht wollte er sein spätes Frühstück zuerst mitnehmen, hat es sich dann aber kurz entschlossen anders überlegt. Oder es gab ein Missverständnis beim Bestellen, denn normaler Weise werden Gebäckwaren zum vor-Ort-Verzehr auf einem Teller gereicht. Seine Earpods und seine völlige Konzentration auf das, was ihm gerade vorgespielt wird, könnte die Kommunikation erschwert haben.
Musik hört er nicht. Es dringt kein Bass oder Gesang zu mir herüber. Bleiben Hörbuch oder Podcast. Aber nichts lustiges, seine Miene ist in kontemplativer Anspannung eingefroren. Eher ein ultimativer Guide zur Selbstoptimierung und Erfolgsmanifestation.
Den Titel seines Buches kann ich leider nicht erspähen. Nach meinem ersten scheuen Blick legt er sogar sein Notizheft über das Cover. Ob zufällig oder beabsichtigt vermag ich nicht einzuordnen.
Nach einiger Zeit steht er auf und verlässt das Café durch die Eingangstür. Um zu rauchen, vermute ich und nutze den Moment den Buchrücken zu lesen. ›Ulrich Becher – William’s Ex-Casino‹.
Die Schrift ist klein, ich muss mich vorbeugen. Da dreht der Muskelberg um und kehrt direkt wieder zurück zu seinem Tisch.
Verschreckt zucke ich zusammen. Bin ich in eine Falle getappt? War das ein Test, um mich als Feind oder Freund einzuordnen?
Jetzt drängt es mich erst Recht zur Kontaktaufnahme. Ich beuge mich abermals vor und entschuldige mich für die Störung. Seine Hand befreit sich von seinem linken Earpod. Mit klaren Augen schaut er mich an.
›Was liest du da? Kannst du das empfehlen?,‹ stolpere ich mir eine Frage zusammen.
Ohne einen Ton von sich zu geben und mit unverhohlener Verachtung im Blick, schüttelt er kaum merklich den Kopf. Dann steckt er sich das weiße Kopfhörerteil ins Ohr zurück.
Ich muss schlucken. Seine Reaktion fühlt sich wie die Handgeste an der Kehle an. Schnell schlinge ich die Reste meines Omlettes runter.
Hinterher google ich den Titel. Ein Kriminal- und Agentenroman. Weitere Schlagworte: Thriller, politischer Krimi, Mafia. Aufbau-Verlag, Berlin, 1977.
Bei meinem nächsten Besuch im Brothers habe ich mehr Glück. Omar ist Marokkaner und hat gerade sein Mittagessen samt einem Becher Ayran vor sich stehen. Ein gut aussehender Soziologiestudent und seit 5 Jahren in Deutschland. Goldkettchen, Ohrringe, Nasenstecker. Dunkle Locken. Freundliches Gesicht. Ein Typ, den man sofort zum Kumpel haben möchte und der jeden Freundeskreis bereichert.
Für ihn ist Brothers kein Fast Food, wie die üblichen Dönerbuden auf der Straße, sondern gutes Essen in familiärer Atmosphäre. Ohnehin seien sich Marokkaner und Türken sehr ähnlich. Vielleicht sogar ähnlicher als Ägypter und Türken. Oder Marokkaner und Ägypter. Außerdem rät er mir doch mal Sonntags hier her zu kommen. Dann sitzen drinnen viele Familien und draußen rauchen die Männer mit Kaffeetassen in den Händen. Und er gibt mir einen Reisetipp für Marokko: ›Casablanca und Marrakesh kannst du vergessen. Da wollen alle einem nur etwas andrehen. Selbst mich nervt das. Fahr besser die Südküste runter und klappere die Surferspots ab. Am besten mit einem Camper.‹
Da – das denke ich mir selbst so – hat man bestimmt auch einen genialen Blick zum Sternenhimmel hoch. Auf die Milchstraße. Auf silberne Galaxieströme. Auf das Multiversum, in dem arabische Gemütlichkeit und Nino de Angelos sehnsuchtsvolles ›Irgendwann im Leben‹ zusammen greifen.