Von Leipzig aus muss ich erst einmal rechts am Mittelgebirge vorbei, um in eine der schönsten Kleinstädte Deutschlands zu gelangen: Quedlinburg. Umarmt von den sanften Hügel des Harzvorlandes ist das Fachwerk-Welterbe mit seinem Schloßberg ein Kleinod der innerdeutschen Tourismus-Destinationen. Zudem gehört Quedlinburg neben Blankenburg und Wernigerode zum magischen Hexendreieck, wie ich das mal so nennen möchte. Die Zauberei und die höhere Magie sind hier allerorten zu bewundern. Auf dem Gipfel des Brocken, im Volksmund auch Blocksberg genannt, wird alljährlich am 30. April die Walpurgisnacht gefeiert. Mit Zaubertrank und Hexenkunst. Die umliegenden Gemeinden feiern mit. In Wernigerode regeln anstelle Ampelmännchen Ampelhexen den Verkehr für die Fußgänger. Zudem ist Blankenburg, genauer gesagt, das dort ansässige Kloster Michael, Europas energetisches Zentrum. Aber das weiß ich noch nicht, als ich bei meinem ersten Besuch die schmalen Gassen zum Schloss hoch spaziere und mich plötzlich mitten im Kampf zweier verfeindeter Käsekuchen-Clans wiederfinde.
Am schönen Schloßplatz, genau da, wo es auch zum feinen Lyonel-Feininger-Museum geht, liefern sich zwei Touristen-Cafés, Aug in Aug direkt gegenüber, einen milchig-süßen Kampf, wer wohl den besten Kuchen der Stadt, von wegen, der Welt macht. Die Schwerter, also, die Kuchenmesser, sind gekreuzt wie die Fachwerkbalken über den jeweiligen Eingangstüten.
Der Schlange nach zu urteilen hat der selbsternannte Käsekuchenkönig eindeutig Oberhand. Marketingmäßig packt er alle Tricks der Waffenkammer aus. ›Bist du bereit für ein Stück Glückseligkeit?‹ oder ›Das Leben ist zu kurz für Knäckebrot. Ich will Käsekuchen!‹ steht auf den Pflanzenkübeln, die seinen üppigen Außenbereich abgrenzen. Frühere Botschaften zielten wohl direkt auf Herz und Ehre seines Kontrahenten. Sogar vor einem hohen Gericht soll das Duell kurzfristig ausgefochten worden sein. Auf Ebene der Lokalpresse jedenfalls sicher. Dort monierte der Geprellte, dass seine Majestät mit Gelantine schummeln würde, er aber, er nur die guten Zutaten und Omas Originalrezept verwendet. Mein Hobbybäcker-Gaumen erklärt glattweg beide Kombattanten zu Verlierern. Omas gute Zutaten enttäuschen durch bröckelige Bauschaum–Konsistenz, während der König tatsächlich lieber verstärkte Schlagsahne mit Quark vermischt und auf einen Mürbteigboden gesetzt hat. Kurz darauf spielt unten am Marktplatz ein Straßenmusiker Eric Claptons ›Tears in Heaven‹.
Wenige Wochen später bläst an eben jener Stelle dann eine Kapelle ihren Tusch zu Ehren Heinrich I. Die Quedlinburger Königstage gilt es zu feiern, die Stadt ist ganz aus dem Häuschen. Der gute König regierte im 9.Jahrhundert, zur gleichen Zeit, als Quedlinburg urkundlich das erste mal erwähnt wurde. Tausend Jahre nach dessen Tod war es Heinrich Himmler wiederum, der ganz aus dem Häuschen war und den hiesigen Königskult für sich und die Nazis nutzte. Genutzt hat es nichts, Deutschland hat den Krieg verloren und die Quedlinburger nach Jahrzehnten DDR-Regime und Sowjetbesatzung so dermaßen die Schnauze voll, dass sie im Verhältnis zur Einwohnerzahl im Schicksalsjahr ’89 den größten Remmidemmi auf den Straßen machte. Am 9. November war quasi die gesamte Stadt auf den Beinen und protestierte, doppelt so viele wie sonst – und niemandem war bewusst, das zeitgleich, im nicht ganz so fernen Berlin, die ersten Menschen mit dem Vorschlaghammer auf die Mauer eindroschen. Was wäre inmitten der Fachwerkgässchen wohl los gewesen, hätte es damals schon Smartphones und Facetime gegeben. Ein wahrer Hexenkessel, sicherlich.
Den Hexenkessel gibt es jetzt dafür zu kaufen. Im übertragenen Sinne und in dem süßen Geschäft namens ›Magieventura‹. Hier findet sich alles zum Thema Harz, Hexen & Harry Potter. Die lokale Kaffeeröstungen hören auf die magischen Namen ›Zauberbohne‹ oder ›Walpurga‹. Und wem eher nach Huffelpuff ist, der kauft sich einen Merchandising-Zauberstab von Dumbledore & Co. Ein paar Meter daneben befindet sich das Café ›Zum Roland‹, welches sich sage und schreibe über ganze 7 Häusern verteilt. Weil alles so winzig und putzig ist. Einmalig in Deutschland. Ebenfalls keine zwei Hex-Hex weit liegt der Schuhhof. Eine kleine Seitengasse mit kleinen Gassenhäuschen, die vom Mark aus nur über einen Spalt zwischen zwei Häusern zu erreichen ist – und von der gegenüberliegenden Seite her über eine Gasse namens ›Hölle‹. Tatsächlich. Im Schuhhof jedenfalls sind nicht nur die meisten Fachwerkhäuser farbig angemalt, in blau, gelb, dunkelrot oder grün oder über jeder Tür ein Holzschuhleisten genagelt – nein – dort lässt sich auch bestens in einem entzückenden Antiquariat stöbern, dessen Dachbalken so niedrig hängen, dass ich Obacht geben muss, um mir nicht den Kopf zu schlagen. Das Antiquariat gehört zur Buchhandlung Gebecke, die seit 1881 Quedlinburg mit Lesestoff versorgt und ihr eigentliches Hauptgeschäft drüben im ›neuen Teil‹ der Stadt hat. Auch dort findet sich, neben den ganzen frischgedruckten Bestsellern der Spiegelliste, im hinteren Teil des Geschäftes einen knarzbalkigen Antiquariatsraum mit schwarzem Rokkoko-Sitz-Ensemble, wo es sich ganz vortrefflich Zauberbücher studieren lässt.
Und wer der komplette Magiedröhnung frönen möchte, dem sei als Herberge das ›Halbes Haus‹ empfohlen. Gleich zum Fuße des Schloßes. Ein verwunschenes Architekturobjekt, welches seinem Namen alle Ehre macht und kurzerhand von der Giebelspitze weg einmal runter abgesägt wurde. Ein bisschen Gleis 9 3/4-Feeling. Mehr Harry Potter geht im Harz nicht.
Nun ja, fast. Es gibt ja immerhin noch das ›Harz-Alchemie‹. Ein kleines Ladenlokal im hinteren Teil der Altstadt, dort, wo es rüber zur Neustadt geht und die Straße zwischen den beiden Stadtteilen so passend ›Zwischen den Städten‹ heißt. Dort also hat Manuel Lavilla sein Geschäft rund um Tarotkarten, Räucherware und Energiesteinen. Und er liest Kunden aus der Hand. Von mir musste er nur meinen Aszendent kennen, um treffend zu erläutern, dass ich viel Intuition besitze, welche mir aber nur schwer über die Lippen kommt. Er erwähnte auch die energetische Bedeutung Blankenburgs. Lustig ist der Zufall, wie es Manuel in das Städtchen an den Harz gezogen hat. Als Kind mochte er die tschechische Fernsehserie ›Arabella‹ so gerne, welche die Fortsetzung der ›Märchenbraut‹ ist, was wiederum mein Lieblingsprogramm in Kindertagen war. Der böse Zauberer aus beiden Staffeln, ›Rumburak‹ ist natürlich gar nicht so böse und die Kinder mögen ihn irgendwie doch. Auch Manuel und mir war er der liebste Charakter von allen. Jedenfalls hatte Manuel seit dem ein Faible für kleine Mittelalterstädte und mein nächster, selbst genähter Anzug wird ›Rumburak‹ heißen, da ich allen meinen Dreiteilern Namen von Zauberern verpasse. Gemeinsamkeiten verbinden.
So lasse ich mir von Manuel noch gerne aus der Hand lesen, doch zunächst fördert er für mich nicht neues zu Tage. Bindungsschwierigkeiten, Entscheidungsschwierigkeiten. Dass mein Talent darin liegt Wissen und Informationen weiter zugeben und ob ich Pädagogik studiert hätte? Nein, Grafikdesign. Aber irgendwie ist das ja ähnlich, nur dass meine Schultafel halt Broschüren und Flyer sind. Als ich meine Lebenslinien wieder zurück in die Hosentasche stecke und sich die Spannung aus Prüfung, Weissagung und Ergebnisneugierde gelegt hat, kommen ihm noch ein paar Gedankenblitze: Das hier in Deutschland ist nicht mein Rhythmus. Vor allen, bezüglich einer Partnerin. Besser eine Südamerikanerin oder Asiatin. Außerdem bekomme ich noch zwei Töchter und werde in 3 Monaten aus Leipzig fort ziehen. Und ich soll immer daran denken meine Nieren gut zu pflegen. Sie benötigen mehr Wärme. Wir umarmen uns zur Verabschiedung und ich wünsche ihm viel Erfolg für seine anstehende Café-Eröffnung.
Im Nebenhaus ist nämlich schon alles zu Bruch gegangen, aber im guten Sinne. Das dortige Café ›Ruinen-Romantik‹ gehört zu den gemütlichsten Gastro-Konzepten, in die ich je meinen Hintern gesetzt habe. Einzig die Außenmauern stehen noch von der Sommerresidenz eines adligen Freiherrn aus dem 16. Jahrhundert. Allerdings fiel das Bürgerhaus weder dem Krieg, noch der SED-Diktatur zum Opfer, sondern einer Handvoll Idioten, die das historische Gebäude in der Silvesternacht 2005 mit Raketen beschossen.
Die neuen Besitzer haben das beste aus dem Schutt gemacht und günstiges Wellblech auf das neu hochgezogene Holzgebälk genagelt. Eine große Terrasse mit Schirmen blieb frei, während die Fenster in den Ruinenwänden einen Hauch von Steampunk verströmen. Zusammen mit den baugleichen, nach innen reichenden Glasmarkisen, sind sie im Stil des Industriezeitalters gehalten und an eine Wassersprühanlage gekoppelt. Das erfrischt die lümmelnden Gäste in den ausrangierten Sofas, während drum herum wilder Wein mit Leuchtgirlanden um die Wette rankt. Bis zum Abend bleibe ich hier leider nicht, stelle mir die Atmosphäre aber großartig vor.
Dafür esse ich den dritten Käsekuchen in Quedlinburg und dieser ist der beste.
Ein bisschen frage ich mich, weshalb ich mich nicht vom ersten Moment an in diese Gassen verliebt habe? Weshalb die unumwunden vorhandene Magie dieses Ortes mich nicht sofort verzaubert und in seinen Bann gezogen hat. Für immer. Als Lebensmittelpunkt. Wo ich doch seit jeher mein Herz an Winkel, Fachwerk und sanfte Hügel verloren habe!?
Richtig beantworten kann ich mir die Frage nicht. Vielleicht führt mich ja mein Weg tatsächlich noch nach an die Küste Osakas oder zu den dichtbewaldeten Bergen Costa Ricas. Oder wenigstens in eines der bunt-befliesten Dörfchen der Algave. Steht doch Portugal schon länger ganz oben auf meiner Liste der nächsten Reiseziele. Doch auch wenn ich den süßen Charme von Pastel de Nata nachvollziehen kann, ein Stück deutscher Käsekuchen ist mir dennoch lieber. Wenn er denn gut gemacht ist! Andererseits bekämen in Portugal meine Nieren genügen Wärme.