›Ihr Männer habt immer so viel Angst,‹ schüttelt Valeria den Kopf. Gemeinsam tragen wir ein fenstergroßes Gemälde durch einen zerkratzen Industriebau in der Leipziger Peripherie. Nur noch ein paar Meter, dann sind wir in ihrem Atelier.
Einige Schritte zuvor, als wir in den kahlen Flur einbogen, begann sie mit stolzer Stimme: ›Ich freu mich drauf dir mein Innerstes zu zeigen,‹ – was mich zur entlarvenden Spaß-Antwort ›Oh, da kann man ja Angst bekommen, so wie du das sagst‹ hinreißen ließ.

Natürlich habe ich Angst. Grundsätzlich, meine ich jetzt. Wir alle haben Angst. Mal mehr, mal weniger. Meistens aber, unser Innerstes anderen zu zeigen – oder zeigen zu müssen. Seltener umgekehrt.

Im Atelier befreit sie ihre aufbewahrten Bilder aus den schützenden Luftpolsterfolien und hängt sie an eine freie Wand. Eines hat es mir ganz besonders angetan. Ein dezenter Frauenakt. Die Dame liegt mit vor der Brust verschränkten Armen rücklings über der Kante eines Sofas. Ihre Augen verdeckt von einer schwarzen Maske. Eine schöne Szenerie, die sofort die Fantasie des Betrachters zum Leuchten bringt.

An dieses Bild und Valerias Worte muss ich jetzt denken, einige Wochen später und mitten im Amsterdamer Rotlichtbezirk. Es ist schon dunkel, die Touristen haben sich in die paar Grachten zwischen de ›Oude Kerk‹ und dem Niewmarkt gedrängt. Sie wollen gaffen.
Angst machen mir die leichtbekleideten Frauen hinter den Schaufensterkabinen nicht. ›Wohl fühlen‹ ist jetzt aber auch ein falscher Begriff.
Während ich so vom Strom getrieben werde, frage ich mich, was die ganzen Menschen hier wohl denken? Wollen all die Männer tatsächlich mit ins Separée der Damen verschwinden? Und wenn, dann für eine schnelle Nummer oder um explizite Fantasien auszuleben? Fühlen sich die Frauen erhaben gegenüber den Sexworkerinnen oder würden sie gerne selbst hinter dem Glas stehen – natürlich nur für ihren Liebsten? Peppt das Spielzeug, welches hier erworben wurde, ab jetzt langfristig das Liebesleben auf? Entblättert sich irgendeine der Damen später im Hotelzimmer wirklich zu Annie Lennoxs Version von ›I Put A Spell On You‹ oder Christina Aguileras ›Dirrty‹? Was ist mit den Männern? Welcher der Herren eifert den durchtrainierten Male-Strippern der Bühnenshows nach? Und selbst wenn die Paare nur etwas Appetit für den intimen Moment in ein, zwei Stunden sammeln, was sammeln dann die Gruppen und Singles?

Diese ganzen Leerstellen bleiben unausgefüllt, da ich keine Gefahr laufen möchte, mit einem möglichen Zuhälter oder eifersüchtigem Partner in Konflikt zu geraten. Außerdem kommt mir die Idee einer kleinen Grachten-Umfrage erst bei der Heimreise im Zug.
Was mir aber auffällt ist, dass die abertausenden Menschen hier nicht nur ihre Souvenirtüten mit sich herum tragen, sondern auch ein kleines Beutelchen Angst im Herzen. Männer wie Frauen. Die Touristenmassen fließen durch die Gassen, aber sie bleiben nicht hängen. Niemand wagt sich über ein vorsichtiges Herantasten hinaus. Sie schauen kurz rein, in einen der unzähligen Sexshops, kratzen an der Oberfläche in den Strip- und Pornoshows oder in eine der beiden Sexmuseen. Aber kein wildes ›sich-selbst-präsentieren‹, kein Umarmen der eigenen Leidenschaft, kein Lachen, Jauchzen, Strahlen.
Davon abgesehen drängt sich mir die Vermutung auf, dass ein gewisser Anteil unserer Fantasien ohnehin von außen in uns rein gedrückt wird. Bei all den Spielzeugen, Utensilien und Unterwäschen, die sich hier in unzähligen Regalen stapeln.

Auf eines lege ich mich nach meinem Abendbummel fest: Es gibt wohl keinen unerotischeren, unsinnlicheren oder Fantasie-abtötenderen Ort in Amsterdam als das Rotlichtviertel. Nur, wo ist er dann? Welches ist der erotischste Ort in der niederländischen Hauptstadt?

Ein guter Aufhänger, um die Stadt zu erkunden finde ich und mache mich auf die Suche. Zunächst nur digital. Ein schönes Stundenhotel wie das ›Orient‹ in Wien gibt es hier nicht. Was mich völlig aus der Fassung bringt und ich niemals vermutet hätte. Auch die Lover Cruises heißen nur so und sind ganz gewöhnliche Touristenboote. Charmante Hausboote oder Mietboote für Techtelmechtel auf dem Wasser finde ich nicht. Romantisches Dinner geht, danach die Klamotten vom Leib reißen: nein! Als Event finde ich das ›Wasteland‹-Festival, Europas größte Fetischparty. Die öffnet ihre sündigen Pforten aber erst wieder im Herbst zu Halloween.
Ich muss mich also zu Fuß aufmachen und mich umhören. Mein erster Anlauf am nächsten Morgen ist ein Sexshop. Aber keiner im Rotlichviertel. Keiner der Sorte, welcher schlecht beleuchtet die Verramschung der Sinnlichkeit befeuert, sondern einer am Rand der Altstadt, direkt gegenüber der Heineken Brauerei und neben dem Café Brecht. Das Brecht gefällt mir, hat so früh aber noch geschlossen. Ich bin ja eh zum Recherchieren hier.
Der Sexshop ist sehr hell und schön, jedoch auch nachdrücklich alternativ-modern und ich bekomme das Gefühl, als weißer CIS-Mann nicht wirklich willkommen zu sein. Das Lächeln der Verkäuferin wirkt mir gequält und heißt übersetzt wahrscheinlich: ›Verzieh’ dich, du überprivilegierter Partizipierer des Patriarchats. Das hier ist nicht deine Welt.‹ Daher verwundert es mich auch nicht, dass ich auf meine Frage nach dem erotischsten Ort Amsterdams, erst einmal eine Schlaumeier-Maßregelung erhalte, weil unter ›erotisch‹ ja sämtliche Individuen etwas anderes verstehen. Schon klar, denke ich mir, ich wollte ja aber ihre Meinung wissen. Vielleicht brachte die Sprachbarriere aber auch ein Missverständnis mit.

Ein paar Gassen stadteinwärts hat Winxi hingegen keine Probleme mit meiner Frage und versteht sie auch bestens. Sie ist Teil-Inhaberin des Sexshops ›The Oh Collective‹, gelegen in einer netten Einkaufsmeile, samt eigener Produktpalette an Toys und Adult-Games.
Freudig gibt Winxi Auskunft.
›Hier gibt es nicht so viel erotische Orte. Keine großen Sexpositiv-Partys wie in Berlin. Kein Kitkat-Club …‹
›Oder selbst das Kätz in Leipzig‹, wie ich ergänze.
›Abseits des Rotlichtviertels ist Amsterdam eher konservativ.‹
Sie zeigt mir noch die Website ›Big little secrets‹, wo es in unregelmäßigen Abständen zu extravaganten Erotik-Events kommt. Das nächste in einem Monat: ›Big Little Casbah. Create 1001 naughty memories in a single night!‹
Klingt viel versprechend.
Wir beide reden noch ein bisschen grundsätzlich über Fantasien und die Scham, diese nicht auszuleben.
›Es gibt Kunden, die schauen hier rein und gehen gleich wieder raus,‹ erzählt Winxi. ›Dann, nachdem sie zwei mal um den Block gegangen sind, kommen sie wieder rein und trauen sich die Produkte in die Hand zu nehmen.‹
Vertrauen braucht Zeit. Und manchmal noch eine Portion frisch gebackene Stroopwafels vorher.

Mittlerweile ist das Wetter biestig geworden. Graue Ödnis spuckt vereinzelte Tropfen vom Himmel herab. Es dämmert langsam. Die ersten Lichter in den Wohnungen gehen an.
Mit eingezogenem Kopf schlendere ich durch die Gassen. Die Grachtenhäuser sind so auffallend offen, elegant und individuell. Jedes Gebäude hat seinen eigenen Stil, stellt liebevoll seine Reize zur Schau. Giebel, Rundungen, schmückende Verzierungen. Alle haben prächtige, einladende Fensterfronten. ›Ich zeige dir mein Innerstes,‹ fällt mir wieder ein. Die Häuser tun es hier allemal.

Erotisch ist das, was unsere Sinne anspricht, denke ich mir. Kunst ist erotisch, ästhetischer Schmuck ist erotisch, hochwertige Kleidung, die unsere Körper betonen, ebenfalls. Dasselbe gilt für ein edles Restaurant mit exquisiten Speisen oder eine chice Bar. Leider reicht mein Budget für Hummer, Chateaubriand oder eine Vichyssoise nicht einmal ansatzweise, daher muss für meine Suche die flüssige Verführung her halten.
Ich mache mich auf den Weg ins ›Door 74‹, eine Bar hinten im Rembrandtplein, dort wo die Grachten Rokin und Kloveniersburgwal als T-Kreuzung zusammen treffen und ein herrliches Panorama bilden.
Es ist unter der Woche abends und in der Luft liegen Excelbefreite After-Work-Seufzer anstelle knisternder Blicke und doppeldeutigen Anzüglichkeiten. Außerdem wurde mir ein Platz am Tresen zugeteilt, was das flauschige Feeling einer gemütlichen Sitzecke missen lässt. Die Bar ist sehr schmal und in dunklen Tönen gehalten. Es verteilen sich kleinere Sitzecken an der Seite, während die Theke selbst sehr dominant im Raum steht.
So richtig überzeugt bin ich von dem Ganzen hier, samt dem hoch gepriesenen Art-Deco-Ambiente, nicht. Da hilft es wenig, dass das Door 74 ein Speakeasy ist. Also ein Etablissement, welches auf ein Werbeschild an der Fassade verzichtet und Besucher nur mittels einer Türklingel um Einlass bitten können.

Ich versuche es im ›The Tailor‹ im Grand Hotel Krasnapolsky. In Bars gibt es Alkohol und wo der hochprozentige Stoff fließt, da fallen die Hemmungen. Grundsätzlich wähne ich mich richtig.
Das Tailor ist viel gesetzter. ›Erotisch‹ ist dafür die falsche Beschreibung. Doch die ausladende Couchgarnitur in Cognacfarben vermittelt eine entspannte Lounge-Atmosphäre. Zudem bringt die Schneiderpuppendekoration oder die Gemälde von knallroten Fliegen und Einstecktüchern einen Hauch von ›handcrafted‹ und Sinnlichkeit mit rein.
Wenn nach einem Besuch im Door 74 reudig gepoppt wird, dann gibt es hier später im Hotelzimmer erst einmal eine ausgedehnte Massage.

Mir dämmert es, dass Hotelbars deutlich mehr Erotikpotential besitzen, als ihre solitären Pendants.
Allein die Frage, woher die Gäste kommen und wohin sie gehen lädt die Fantasie ein. Diese vorbeiziehende Anonymität. Jeder kann im Hotel der oder diejenige sein, die er oder sie sein möchte. Jeder zufällige Blick zwischen zwei Menschen scheint zu raunen: Egal was heute Nacht passiert, morgen ist alles vergessen!

Die Bar im ›Hotel Pulitzer‹ ist komplett pechschwarz gehalten, mit nur vereinzelten goldenen Applikationen. Sehr elegant, sehr sinnlich. Doch mein Ziel liegt ein paar Querstraßen Richtung dem Stadtteil Jordaan. Das ›The Torent‹.
Ja, Erotik ist subjektiv. Und doch gibt es Codes und Chiffre, die nahezu allgemeingültig von den allermeisten Menschen so gelesen und besetzt werden. Die Bar im Torent kennt sie alle. An den Wänden Fotografien voll dezenter Sinnlichkeit, zwei große goldene Lüster, die sich von der Decke neigen, eine Tapete mit dunklem, floralen Muster, ein wenig an schwarze Spitze erinnernd. Sonst dunkle Rottöne, dunkles und sehr detailliert geschnitztes Holzinterieur. Die Theke leuchtet mit all den Dutzenden Flaschen präsent, aber zurückhaltend von der Stirnseite in den Raum hinein. Die Hotelbar besteht aus zwei kleineren, mit einander verbundenen Zimmern – eine perfekt ausbalancierte Größe, um sich zwar gut zu sehen und doch mit großem Schwung sehnsuchtsvolle Blicke hin und her werfen zu können. Was könnte hier alles geschehenen, wenn nur die richtigen Menschen mit den richtigen Absichten aufeinander treffen und sich in ihrer Anziehung gegenseitig erkennen?
Heute berlinert im Mario-Barth-Idiom ein Poloshirt- und Shorts-tragender bierbäuchiger Unternehmer seine Frau plus die zwei Kids voll.
Ich stelle fest: Ohne Dresscode, keine Erotik! Ohne Manieren sicherlich auch nicht. Die Berliner Geissens kommen in meinen Fantasien nicht vor. Schnell entschwinde ich wieder in die Amsterdamer Nacht.

Auf dem Weg zurück ins Hotel (ohne eigene Bar) streicht meine Aufmerksamkeit die vielen hell erleuchteten Fenster an den Kanälen entlang. Auch hier, alle mit direkter Einsicht in die Wohnungen. Eine Frau in Unterwäsche löscht gerade das Wohnzimmerlicht hin zur Prinzenkraacht aus. Ich bilde mir ein, sie bleibt stehen und beobachtet mich, wie ich hoch zu ihr blicke. Irgendwann verschwindet sie in den Schlund ihres Flures.
Für einen kurzen Moment war ich Voyeur und teilte ihren Exhibitionismus. Beide eher unfreiwillig jedoch. Aber ist das in heißen Sommernächten womöglich anders? Haben Amsterdamer*innen Sex in dunklen, aber unverhängten Wohnzimmern zur Gracht hin raus, um von anonymen Schatten begierig gesehen zu werden? Oder wäre das zu ›pervers›?

Ach was! Keine Angst vor Sex und dem dummen Gerede der Nachbarn.
›When you don’t want to be judged: sell icecream! Everybody loves icecream.‹ Raoul zieht an seiner Zigarette und macht eine abweisende Handbewegung. Sex ist sein Business.
Mit seinem BDSM-Accessoire-Shop, dort wo das Rotlichtviertel langsam in die Gastromeile übergeht, zog er vor einer Woche frisch hier her. Die alte Location waren ihm und seinem Kompagnon zu klein. Jetzt erstrecken sich auf drei Etagen Verkaufsraum und Werkstätten. Von der Decke hängen Knebelgeschirr und an den Wänden lederne Striemenpeitschen.
Raoul ist ein schmächtiger Kerl, dem man seine zweite Leidenschaft, die Musik, sofort abnimmt. So einer verkauft nicht nur mit Verve Handschellen und kinky Fesselbedarf, der umklammert auch fest seine Lieblingsgitarre und schmiegt sich rauchend an ihren Hals. Jetzt schimpft er aber über die Bürgermeisterin, die das Rotlichtbezirk besser gestern als heute aus der Altstadt raus und in die Subburbs bringen will. Danach sind die Wannabes der Szene dran, die Möchtegern-Fifty-Shades-of-Grey-BDSMler. Die das nur machen, weil es gerade hip ist. Er aber, er mag viel lieber die alten Dinosaurier. Alles tolle Menschen, mit dem Herz am richtigen Fleck.
Tausend Geschichten könne er mir erzählen. Wenn ich ihn zum Essen einladen würde, dann sogar zweitausend. Aber er nimmt sie alle mit ins Grab. Bei Kunden, oder auch solche, die es hätten werden können, gilt professionelle Schweigepflicht.
Jedenfalls sind die allermeisten, die sich als Touristen hier durch die Gassen schieben, von der ganzen Erotik und Sexualität ›overwhelmed‹, überfordert. Und anstelle sich über die ganze Vielfalt und Offenheit zu freuen, zeigen sie mit dem Finger auf BDSM. Er schüttelt traurig den Kopf.

Ich bin aufrichtig erstaunt, dass beide Sexshops, die ich besucht habe, von ähnlicher Scheu und Scham berichtet haben. In meinem Kopf kamen die Menschen immer hierher, um sich endlich einmal frei und ungezwungen fühlen zu dürfen. Das entpuppt sich dann wohl nur als schnöde Illusion. Doch ist nicht gerade ›Illusion‹ die wirkmächtigste Triebfeder der Erotik? Der rot-schwarze Schleier der Ästhetik und Fantasie, um dem animalischen Instinkt zur Vermehrung der Spezies etwas Würde und Glanz zu verleihen? Dann gibt es wohl keinen besseren Ort zu besuchen, als dem, wo die Illusion geboren wurde: dem Theater. Genauer, dem Tuschinski-Theater.

Das Tuschinski ist in Wahrheit gar kein Theater, sondern ein Kino und heißt nur so. Dafür überrascht der imposante Art-decó-Bau von 1921 innen mit einem Interieur, wie aus einem gemeinsamen Fiebertraum von Egon Schiele und Gustav Klimt geschlagen. Alleine Foyer und Vorraum können in Punkto Atmosphäre und Gravitas mit den edelsten Hotelbars in London oder Hongkong mithalten. Ein Stripclub, sogar das Moulin Rouge in Paris, fällt im Vergleich zu diesem Interieur sang- und klanglos ab, als wäre es das letzte Stück Stoff auf der Haut der Tänzerin.
Gleich am ersten Morgen, kurz nach Kakao und Croissant bin ich zufällig an dem Haus vorbei geschlendert und war vom ersten Moment an gefangen. Jetzt habe ich mir die Kinokarte eines vollkommen nebensächlichen Filmes gekauft und lasse mich ins letzte Jahrhundert tragen.
Überall prangt dunkles Holz und dunkelroter Teppichboden. An der Bar laden schwarz-weiß gestreifte Sessel zum Entspannen und Konversation führen ein. Von den Wänden schummern mit Stoff bespannte Lampenschirme, dazu glänzt jede Menge Rot, Gelb und Gold. Es fliegen Vögel und nackte Schmetterlingswesen um mich herum. Fernweh liegt in der Luft und durch den Flur weht ein Hauch vom Orient Express, dessen heimlicher Fahrgast Mata Hari ist.
Der Hauptsaal ist episch. Ein ebenerdiges Parkett mit roter Samtbestuhlung, hinten an den Eingängen separate Logen, darüber zwei, sich im Halbkreis die Wand entlang spannende Balkone. Die Leinwand wird von zwei nackten Damen gekrönt, welche aneinander geschmiegt eine Sonne halten. Unterhalb der Decke, einmal rings durch den Saal, schauen Frauengemälde auf die Besucher herab. Einer Baskenmützen-behüteten Dame kann gar man unter den Rock schauen.

Mit ziemlicher Sicherheit muss sich die Leinwand hochfahren lassen und eine größere Bühne zum Bespielen frei geben. Marlene Dietrich und Édith Piaf traten in diesem Saal schon auf, die werden sich nicht auf dem engen Meter vor dem Vorhang gezwängt haben. Dazu lassen sich rein theoretisch die Sitzreihen abschrauben, um einer, leider leicht abschüssigen, Tanzfläche Platz zu machen.

Auf der Bühne könnte ein erotisches Stück aufgeführt werden, überlege ich mir. Anlass in meiner Fantasiewelt ist eine ›Soirée Sensualité‹ mit Begleitprogramm und Musik. Unten im Hauptsaal muss aber die Bestuhlung weichen. Die Menschen brauchen Bewegung. Wie ein Sammelbecken für Sommerregen müssen die Tropfen dort zusammen rinnen, sich begutachten, wie zufällig sich berühren und dann schnell ihre Augen wieder voneinander abwenden oder hinter einem Fächer verstecken.
Ein Dresscode ist, wie gelernt, essentiell. Wir befinden uns in einer Nacht, die es an Größe mit Unabhängigkeitserklärungen aufnehmen kann. Bitte nur die eleganteste und fantasievollste Garderobe. Nicht zu exzentrisch, aber auch kein klassischer Opernball-Käse.
Mir fält die Augenmaske von Valerias Gemälde wieder ein. Die braucht es auf jeden Fall. Mit einem Unterschied, dass die Damen nicht von der Sofakante herab hängen, sondern wahlweise ihre Körper über die samtene Sitzlehnen der Logen gebeugt haben oder sich an der hölzernen Brüstung der Balkone festklammern. Hier wird nicht nur getanzt – hier fallen Hüllen und Hemmungen, Angst und falscher Anstand. Draussen auf den gestreiften Sofas, oben auf den Balkonen und natürlich in den Logen, direkt bei den Eingängen.
Überhaupt: Die Logen haben es mir angetan. Betreten lassen sie sich nur durch eine Tür aus dem Vorraum. Vom Hauptsaal abgegrenzt sind sie dann durch eine hölzerne Brüstung. Das beste aber an ihnen sind die sehr breiten Pärchensitze, welche durchweg in allen Logen aufgestellt wurden. Was lässt es sich nur auf ihnen räkeln und recken, während auf der Tanzfläche die Pfauen der Nacht im Klang der Instrumente baden?
Der Zufall will es, dass als Wartemusik Michael Jacksons ›Dirty Diana‹ gespielt wird. ›She looked me deep in the eyes. She touchin‘ me so to start … I’ll be your night lovin‘ thing. I’ll be the freak you can taunt.‹

Meine Gedanken fahren Karussell. Es bleibt eine Schande, dass wir an diesem Ort unbeweglich ausharren müssen, um die lustlosen Fantasien eines Hollywood-Studios ansehen zu müssen. Was könnte sich in diesen Räumen nur abspielen, wenn wir alle Konventionen und materialistischen Zwänge am Eingang in den Schirmständer stopfen? Wir würden neue Horizonte erobern. Mit Sicherheit. Da kommt mir das Sprüchlein in den Sinn, welches die Besitzer des Café Brechts auf den Putz zwischen Eingang und Hipster-Sexshop gepinselt haben: ›Ändere die Welt, sie braucht es‹. Zustimmend nicke ich im Geiste.

Auf meinem Nachhauseweg winkt die ewige Angst unter schwarzer Seide tonlos Abschied, ehe sie in den ruhigen Wellen der Grachten versinkt. Ringsum stehen sie in ihren erleuchteten Fenstern Spalier: Frauen, Männer, sämtliche dazwischen und jene sowohl, als auch. Und sie alle halten große Schilder in die Höhe, auf denen mit schwungvollen Lettern ihre geheimsten Fantasien geschrieben sind, für alle Welt lesbar. Doch in ein paar Wohnungen, wo das Licht aus bleibt, da krallen sich direkt hinter dem Glas nackte Paare in das Fleisch des jeweils anderen und lassen die Voyeure an ihrer Ekstase teilhaben.